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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Zeit für eine Antwort, da der Lehrer für Gesellschaftswissenschaften ohne anzuklopfen, die Tür öffnete und sagte, da sei ein dringender Anruf vom Erziehungsministerium für den Rektor. Der verließ hastig den Raum, um ans Telefon zu gehen, und kam nicht mehr in die Klasse zurück. Nie wieder, denn der Anruf hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass er nach fünf Jahren im Liceo und einem ganzen Leben guten Dienstes von seinem Posten als Rektor enthoben worden war.
    Sein Nachfolger wurde der Dichter Carlos Martín, der jüngste von den guten Lyrikern der Gruppe Piedra y Cielo, die ich mit César del Valles Hilfe in Barranquilla entdeckt hatte. Carlos Martín war dreißig und hatte bereits drei Bücher veröffentlicht. Ich kannte einige seiner Gedichte, hatte ihn auch schon einmal in einer Buchhandlung in Bogotá gesehen, ihm aber nichts zu sagen gewusst, auch keines seiner Bücher dabeigehabt, um ihn zu bitten, es mir zu signieren. Eines Montags erschien er ohne Ankündigung in der Mittagspause. Wir hatten ihn nicht so früh erwartet. Er sah eher wie ein Rechtsanwalt aus als wie ein Lyriker, mit seinem Nadelstreifenanzug, der freigekämmten Stirn und einem schmalen Schnurrbart von einer formalen Strenge, die auch seinen Gedichten anzumerken war. Er ging mit wohlgemessenen Schritten auf die nächststehenden Grüppchen zu, gemächlich und ein wenig distanziert wie immer, und streckte die Hand aus:
    »Hallo, ich bin Carlos Martin.«
    Zu jener Zeit war ich fasziniert von der lyrischen Prosa, die Eduardo Carranza in der Literaturbeilage von El Tiempo und in der Zeitschrift Sábado veröffentlichte. Dieses Genre schien mir von Juan Ramón Jiménez' Platero und ich inspiriert, einem Buch, für das die jungen Dichter, die dem Mythos des parnassien Gullermo Valencia den Garaus machen wollten, schwärmten. Der Poet Jorge Rojas, Erbe eines kleinen Vermögens, förderte mit seinem Namen und seinem Geld die Publikation von originellen Bändchen, die in seiner Generation mit großem Interesse aufgenommen wurden und eine Gruppe bekannter guter Dichter zusammenführte.
    In der Atmosphäre des Hauses fand ein grundlegender Wandel statt. Die geisterhafte Erscheinung des vorherigen Rektors wurde durch einen körperlich präsenten Menschen ersetzt, der zwar die nötige Distanz wahrte, aber immer ansprechbar war. Er verzichtete auf die routinemäßige Überprüfung der äußeren Erscheinung seiner Zöglinge und auf andere müßige Regeln, unterhielt sich auch zuweilen in der Abendpause mit den Schülern.
    Der neue Stil brachte mich auf meine Bahn. Vielleicht hatte Calderón mit dem neuen Rektor über mich gesprochen, denn an einem der ersten Abende unterzog der mich einer eindringlichen Befragung über mein Verhältnis zur Poesie, woraufhin ich ihm alles offenbarte, was in mir gärte. Er fragte mich, ob ich Die literarische Erfahrung, ein allseits diskutiertes Buch von Alfonso Reyes, gelesen hätte. Ich gestand, das sei nicht der Fall, und er brachte es mir am nächsten Tag. Ich verschlang die Hälfte davon in drei aufeinander folgenden Unterrichtsstunden unter der Bank und den Rest in den Pausen auf dem Fußballplatz. Es freute mich, dass ein angesehener Essayist die Lieder von Agustín Lara ebenso ernsthaft wie Gedichte von Garcilaso de la Vega untersuchte, unter dem Vorwand einer geistreichen Sentenz: »Die beim Volk beliebten Lieder von Agustín Lara sind keine Volksmusik.« Für mich war es, als entdeckte ich die Poesie im täglichen Einerlei wieder.
    Martín verzichtete auf den großartigen Rektoratsraum. Er richtete sein Büro der offenen Türen am Innenhof ein, und das brachte ihn unseren abendlichen Treffen nach dem Essen noch näher. Mit seiner Frau und seinen Kindern zog er für längere Zeit in ein gut erhaltenes Kolonialhaus an einer Ecke der Plaza Mayor und richtete sich ein Arbeitszimmer ein, dessen Wände mit all den Büchern bedeckt waren, von denen ein Leser, der die Erneuerungsbestrebungen jener Jahre verfolgte, nur träumen konnte. Dort besuchten ihn am Wochenende seine Freunde aus Bogotá, vor allem seine Kollegen von Piedra y Cielo. Irgendwann an einem Sonntag kam ich, weil es etwas Nebensächliches zu erledigen gab, mit Guillermo López Guerra in das Haus, wo gerade Eduarde Carranza und Jorge Rojas, die beiden Stars der Bewegung, zu Besuch waren. Um das Gespräch nicht zu unterbrechen, machte der Rektor uns ein Zeichen, dass wir uns setzen sollten, und da saßen wir dann eine halbe Stunde lang, ohne ein Wort zu

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