Leben, um davon zu erzählen
ich die leichten Fächer des ersten Studienjahres durch Aufwärmaktionen in letzter Minute und die schwierigeren Fächer mit meinem alten Kniff, das Thema durch geistreiche Taschenspielertricks zum Verschwinden zu bringen. In Wahrheit aber fühlte ich mich nicht wohl in meiner Haut und wusste nicht, wie ich mich in dieser Sackgasse weiter vorantasten sollte. Von der Rechtswissenschaft verstand ich nicht nur wenig, sie interessierte mich auch sehr viel weniger als irgendein Fach der Oberschule, und ich fühlte mich erwachsen genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nach sechzehn Monaten des wundersamen Überlebens blieb mir am Ende nur eine Hand voll guter Freunde für den Rest meines Lebens.
Mein geringes Interesse für das Studium wurde nach dem lobenden Artikel von Ulises noch geringer, besonders als mich in der Universität einige Kommilitonen Meister zu nennen begannen und mich als Schriftsteller vorstellten. Zugleich war ich wild entschlossen zu lernen, wie man eine Erzählung baut, die zugleich glaubwürdig und phantastisch ist und nichts zu wünschen übrig lässt. Ich versuchte es anhand von perfekten, aber sich entziehenden Vorbildern wie dem König Ödipus von Sophokles, dessen Held den Mord an seinem Vater aufklären will, um schließlich zu entdecken, dass er selbst der Mörder ist; mit W. W. Jacobs Die Affenpfote, einer vollkommenen Erzählung, in der alles zufällig geschieht; oder mit Maupassants Fettklößchen und den Werken so vieler anderer großen Sünder, die Gott in seinem himmlischen Reich versammelt haben möge. Solcherlei Dinge beschäftigten mich, als mir an einem Sonntagabend etwas wirklich Erzählenswertes widerfuhr. Ich hatte fast den ganzen Tag damit verbracht, meinen schriftstellerischen Frustrationen bei Gonzalo Mallarino in der Avenida Chile Luft zu machen, und als ich dann mit der letzten Straßenbahn zurück zur Pension fuhr, stieg an der Station Chapinero ein leibhaftiger Faun ein. Ja, ein Faun. Mir fiel auf, dass keiner der wenigen Mitternachtspassagiere sich über den Anblick wunderte, so dass ich dachte, es handele sich wohl wieder mal um einen der Maskierten, die sonntags alles Mögliche auf den Kinderspielplätzen verkauften. Die Tatsachen überzeugten mich jedoch davon, dass es keinen Grund zum Zweifeln gab, denn die Hörner und der Bart des Fauns waren so wild wie die eines Ziegenbocks, und ich nahm sogar im Vorbeigehen den Geruch seines Fells wahr. Vor der Galle 26, wo der Friedhof liegt, stieg er wie ein guter Familienvater aus und verschwand zwischen den Alleebäumen im Park.
Nach Mitternacht fragte mich Domingo Manuel Vega, der davon aufgewacht war, dass ich mich im Bett herumwarf, was denn mit mir los sei. »Ein Faun ist in die Trambahn gestiegen«, sagte ich ihm halb im Traum. Er antwortete mir hellwach, dass, falls es sich um einen Albtraum handele, er wohl auf die sonntäglichen Verdauungsschwierigkeiten zurückzuführen sei, falls es aber das Thema meiner neuen Geschichte sei, fände er das phantastisch. Am nächsten Morgen wusste ich nicht mehr genau, ob ich wirklich einen Faun in der Straßenbahn gesehen hatte oder ob das nur eine sonntägliche Halluzination gewesen war. Ich räumte zunächst ein, dass ich vor Müdigkeit eingeschlafen sei und einen so deutlichen Traum gehabt hätte, dass ich ihn nicht von dem wirklich Geschehenen unterscheiden konnte. Wesentlich für mich war am Ende nicht, ob der Faun nun real gewesen war, sondern dass ich ihn real erlebt hatte. Und eben deshalb - egal ob wirklich oder geträumt - war es nicht richtig, dies als einen Hexenzauber der Einbildung abzutun, es war vielmehr eine wunderbare Erfahrung in meinem Leben.
Also schrieb ich die Geschichte am nächsten Tag in einem Schwung nieder, legte sie unters Kopfkissen und las sie an mehreren Abenden vor dem Schlafen und morgens nach dem Aufwachen wieder durch. Es war eine schmucklose und getreue Niederschrift der Trambahnepisode, genau wie sie sich ereignet hatte, und in einem so harmlosen Ton gehalten, als handele es sich um den Bericht über eine Taufe in den Gesellschaftsnachrichten. Als mich wieder neue Zweifel beschlichen, beschloss ich schließlich, die Erzählung der unfehlbaren Prüfung des gedruckten Wortes zu unterziehen, diesmal aber nicht in El Espectador, sondern in der Literaturbeilage von El Tiempo. Womöglich konnte ich so ein anderes Urteil als das von Eduarde Zalamea kennen lernen, ohne ihn in ein Abenteuer zu ziehen, das er nicht unbedingt teilen musste. Die
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