Leben, um davon zu erzählen
erwähnte. Dann ließ er uns allein, kehrte, als hätte er nie etwas mit uns zu tun gehabt, in den erbitterten Krieg zurück, den er mit seinem feuerroten Stift gegen eilige Manuskripte führte. Héctor redete im leichten Regengeräusch der Setzmaschinen weiter, als habe auch er nichts mit Zabala zu tun. Er war ein unermüdlich eloquenter Gesprächspartner, von einem blendenden Sprachwitz, ein Abenteurer der Phantasie, der unglaubliche Wirklichkeiten erfand, an die er schließlich selber glaubte. Wir unterhielten uns stundenlang über andere lebende oder bereits gestorbene Freunde, über Bücher, die nie hätten geschrieben werden dürfen, über Frauen, die uns vergessen hatten und die wir nicht vergessen konnten, über die paradiesischen Strande der Karibik in Tolú - seinem Geburtsort -sowie über die unschlagbaren Hexer und die biblischen Katastrophen in Aracataca. Über alles Gehabte und Gewünschte, tranken nichts dabei, atmeten kaum und rauchten bis zum Gehtnichtmehr in der Angst, unser Leben könnte für all das nicht langen, was wir noch zu besprechen hatten.
Um zehn Uhr nachts, als die Zeitung schloss, zog Maestro Zabala sein Jackett über, band die Krawatte um und lud uns mit einem Ballettschritt, der nicht mehr sehr jugendlich wirkte, zum Essen ein. Ins La Cueva, wie voraussehbar, wo die beiden davon überrascht wurden, dass Juan de las Nieves und ein paar späte Gäste mich als alten Kunden wiedererkannten. Die Überraschung steigerte sich, als einer der Polizisten aus meiner ersten Nacht auftauchte, einen zweideutigen Scherz über meinen nächtlichen Aufenthalt in der Kaserne machte und mein eben erst angebrochenes Päckchen Zigaretten beschlagnahmte. Héctor seinerseits forderte Juan de las Nieves zu einem Turnier der Doppeldeutigkeiten, bei dem die Tischgäste fast vor Lachen platzten, während Maestro Zabala wohlgefällig schwieg. Ich wagte es, eine kleine Replik beizusteuern, die zwar nicht besonders geistreich war, mir jedoch immerhin dazu verhalf, in den kleinen Kreis der Gäste aufgenommen zu werden, die Juan de las Nieves bis zu viermal im Monat anschreiben ließ.
Nach dem Essen setzten Héctor und ich das Gespräch vom Nachmittag auf dem Paseo de los Märtires fort, gingen an der übel riechenden Bucht entlang, in der die republikanischen Abfälle des städtischen Marktes landeten. Es war eine wunderbare Nacht in der Mitte der Welt, und wir sahen, wie die ersten Schoner nach Curacao verstohlen ablegten. Im Morgengrauen steckte mir Héctor die ersten Lichter über die versunkene Geschichte von Cartagena auf, die, mit tränennassen Tüchern zugedeckt, vielleicht mehr den Tatsachen entsprach als die gefällige Version der Akademiker. Er belehrte mich über das Leben der zehn Märtyrer, an deren Heldentum die Marmorbüsten zu beiden Seiten der Promenade erinnerten. Die folkloristische Version - die seine, wie es schien -besagte, dass die Bildhauer die Namen und Jahreszahlen in die Sockel eingehauen hatten. Als die Büsten dann anlässlich der Hundertjahresfeier ihrer Aufstellung zum Säubern abgenommen wurden, habe man danach nicht mehr gewusst, welche Büste zu welchem Namen und Datum gehörte, so dass sie nach Gutdünken wieder auf die Sockel gesetzt werden mussten, weil niemand sich auskannte. Die Geschichte ging seit vielen Jahren als Witz um, ich dachte jedoch, dass es sich ganz im Gegenteil um einen Akt historischer Gerechtigkeit handelte, wenn diese namenlosen Heroen nicht so sehr wegen ihres gelebten Lebens als wegen ihres gemeinsamen Schicksals gewürdigt wurden.
Zu solchen schlaflosen Nächten kam es in meinen Jahren in Cartagena fast täglich, doch schon nach den ersten zwei oder drei nächtlichen Touren war mir klar, dass Héctor über eine unmittelbare Verführungskraft verfügte, verbunden mit einem komplizierten Sinn für Freundschaft, den man nur vorbehaltlos akzeptieren konnte, wenn man Héctor sehr liebte. Denn er war ein zartes Gemüt, das aber zu lauten und manchmal katastrophalen Wutausbrüchen neigte, nach denen er sich selbst als göttliches Gnadengeschenk feiern konnte. Dann verstand man, wie er war und warum Maestro Zabala sein Möglichstes tat, damit wir Héctor ebenso liebten wie er. Als Journalisten von der Ausgangssperre verschont, blieben wir in der ersten Nacht, wie in so vielen anderen Nächten, bis zum Tagesanbruch auf dem Paseo de los Märtires. Hectors Stimme und sein Gedächtnis waren nicht getrübt, als er den Widerschein des neuen Tages am Meereshorizont
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