Leben, um davon zu erzählen
dass er im Frieden wie im Kriege als Falke galt, was er Jahre später als Kommandant des kolumbianischen Bataillons in Korea beweisen sollte. Niemand rührte sich in den zwei angespannten Stunden, die der Oberst hinter verschlossenen Türen mit dem Direktor sprach. Sie tranken zweiundzwanzig Tassen schwarzen Kaffees, es gab aber keine Zigarette und keinen Alkohol, weil beide frei von Lastern waren. Als der Oberst herauskam, war er noch lockerer und verabschiedete sich von jedem von uns. Bei mir verweilte er ein bisschen länger, schaute mir mit seinen Luchsaugen scharf in die Augen und sagte:
»Sie werden es weit bringen.«
Mein Herz tat einen Angstsprung, weil ich dachte, er wisse womöglich schon alles über mich, und weil das Weiteste für ihn wohl der Tod war. In dem vertraulichen Bericht, den der Direktor Zabala gab, offenbarte er ihm, dass der Oberst jeden Autor der täglichen Beiträge bei Namen und Nachnamen kannte. Der Direktor hatte ihm daraufhin in einer für ihn typischen Haltung gesagt, dass der jeweilige Verfasser auf seinen Befehl hin handle und dass wie in den Kasernen auch in den Zeitungen Befehle befolgt würden. Der Oberst gab jedenfalls den Ratschlag, man solle sich bei dieser Kampagne etwas mäßigen, damit nicht am Ende irgendein Barbar aus seiner Höhle krieche, um im Namen der Regierung Ordnung zu schaffen. Der Direktor hatte verstanden, und wir alle verstanden auch das, was er nicht sagte. Am meisten hatte den Direktor überrascht, dass der Oberst das Innenleben der Zeitung so gut kannte, wie jemand, der dazugehörte. Keiner zweifelte daran, dass der Zensor sein Geheimagent war, obwohl dieser bei den sterblichen Überresten seiner Mutter schwor, er sei es nicht. Das Einzige, worauf der Oberst bei seinem Besuch nicht einging, war die täglich neu gestellte Frage. Der Direktor, der als weiser Mann galt, gab uns den Rat, alles zu glauben, was uns gesagt worden war, da die Wahrheit schlimmer sein konnte.
Seitdem ich mich im Kampf gegen die Zensur engagiert hatte, waren mir die Universität und auch meine Erzählungen ferngerückt. Zum Glück gingen die meisten Professoren nicht die Anwesenheitsliste durch, was das Schwänzen begünstigte. Zudem litten die liberalen Professoren, die meine Scharmützel mit der Zensur kannten, mehr als ich bei den Prüfungen und bemühten sich, mir Hilfestellung zu geben. Heute, da ich versuche, über jene Tage zu erzählen, finde ich sie in meiner Erinnerung nicht, und so glaube ich inzwischen dem Vergessen mehr als dem Gedächtnis.
Meine Eltern schliefen wieder ruhig, nachdem ich sie hatte wissen lassen, dass ich bei der Zeitung genügend verdiente, um zu überleben. Das stimmte nicht. Das Monatsgehalt eines Volontärs reichte mir kaum für eine Woche. Nach knapp drei Monaten verließ ich das Hotel mit unbezahlbaren Schulden, die mir die Wirtin später für eine Meldung auf der Gesellschaftsseite über den fünfzehnten Geburtstag ihrer Enkelin erließ. Aber auf so ein Geschäft ließ sie sich nur einmal ein.
Der belebteste und kühlste Schlafsaal der Stadt war immer noch der Paseo de los Mártires, sogar zu Zeiten der Sperrstunde. Wenn sich die fröhlichen Runden spät in der Nacht auflösten, dämmerte ich dort auf einer Bank sitzend vor mich hin. Oft schlief ich auch im Lager der Zeitung auf den Papierrollen oder erschien, meine Zirkushängematte unterm Arm, in den Zimmern anderer, vernünftiger Studenten und blieb, solange sie meine Albträume und meine schlechte Angewohnheit, im Schlaf zu reden, aushielten. Auf diese Weise überlebte ich, dem Glück und dem Zufall überlassen, aß, was es gerade gab, und schlief, wo Gott es wollte, bis die humanitär gesinnte Sippe der Franco Münera mir zwei Essen pro Tag für einen Mitleidspreis anbot. Der Vater der Sippe - Bolívar Franco Pareja - war ein denkwürdiges Exemplar eines Volksschullehrers, und er hatte eine fröhliche Familie, die für Künstler und Schriftsteller schwärmte und mich zwang, mehr zu essen, als ich zahlte, damit mir das Hirn nicht verdorrte. Oft hatte ich nicht einmal das bisschen Geld, aber sie gaben sich mit Rezitationen nach Tisch zufrieden. Jorge Manriques Verse zum Tod seines Vaters und die Zigeunerromanzen von García Lorca waren häufige Unkostenbeiträge bei diesem ermutigenden Geschäft.
Die Bordelle unter offenem Himmel auf den Sandbänken von Tesca, fern ab von der verstörenden Stille innerhalb der Stadtmauern, waren gastfreundlicher als die Touristenhotels am Strand. Ein
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