Leben, um davon zu erzählen
dampfende Sümpfe gelangen konnte und wo es völlig normal war, jemandem als Rache für eine Beleidigung eine Teufelsbrut in den Bauch zu hexen.
Die Bewohner von La Sierpe waren überzeugte Katholiken, sie lebten ihren Glauben jedoch nach ihrer Art und hatten für jede Gelegenheit ein Zaubergebet. Sie glaubten an Gott, an die Jungfrau und an die Heilige Dreieinigkeit, verehrten sie aber in jedwedem Gegenstand, in dem sie göttliche Eigenschaften zu entdecken meinten. Unvorstellbar wäre für sie gewesen, dass jemand, dem eine satanische Bestie im Bauch wuchs, so rational handelte, das ketzerische Handwerk eines Chirurgen in Anspruch zu nehmen.
Bald erfuhr ich zu meiner Überraschung, dass jedermann in Sucre von der Existenz La Sierpes wusste: ein realer Ort, bei dem es nur das Problem gab, dass der Weg dahin durch allerlei geografische und mentale Hindernisse erschwert wurde. Schließlich entdeckte ich durch Zufall, dass es einen Fachmann für das Thema La Sierpe gab, und zwar meinen Freund Angel Casij, den ich zum letzten Mal in Bogotá gesehen hatte, als er uns durch den stinkenden Schutt des 9. April geleitete, damit wir eine Nachricht an unsere Familien aufgeben konnten. Als ich ihn nun traf, war er vernünftiger als seinerzeit und hatte von seinen Reisen nach La Sierpe Unglaubliches zu berichten. Ich erfuhr alles Wissenswerte über die Marquesita, die Herrin und Besitzerin jenes ausgedehnten Reiches, in dem man geheime Gebete kannte, mit denen man Gutes oder Böses bewirken und einen Todkranken wieder auf die Beine bringen konnte, wenn man nur eine Beschreibung seines Körpers hatte und seinen genauen Aufenthaltsort wusste. Es war auch möglich, eine Schlange durch die Sümpfe zu schicken, damit sie nach sechs Tagen einen Feind tötete.
Verboten war der Marquesita einzig und allem, Tote auferstehen zu lassen, da diese Macht Gott vorbehalten war. Sie lebte, solange sie wollte, zweihundertdreiunddreißig Jahre nimmt man an, und von ihrem sechsundsechzigsten Geburtstag an wurde sie keinen Tag mehr älter. Bevor sie starb, trieb sie ihre fabelhaften Schafherden zusammen und ließ sie zwei Tage und zwei Nächte im Kreis um ihr Haus laufen, bis der morastige See von La Sierpe entstand, ein unermessliches Gewässer, das mit phosphoreszierenden Anemonen überzogen ist.
Es heißt, dass mitten darin ein Baum mit goldenen Kürbissen steht, an dessen Stamm ein Kanu gebunden ist. Immer am 2. November, an Allerseelen, fährt es führerlos zum anderen Ufer, das von weißen Kaimanen und Schlangen mit goldenen Schellen bewacht wird; dort hat die Marquesita ihr ungeheures Vermögen vergraben.
Seitdem mir Angel Casij diese phantastische Geschichte erzählt hatte, trieb mich das Verlangen, jenes in der Wirklichkeit gestrandete Paradies von La Sierpe zu besuchen. Wir dachten an alles, Reittiere, die mit vorbeugenden Gebeten immunisiert waren, unsichtbare Kanus, magische Führer und was sonst noch nötig war, um die Chronik eines übernatürlichen Realismus zu schreiben.
Die Maultiere blieben jedoch gesattelt stehen. Die nur schleppende Erholung von der Lungenentzündung, der Spott der Freunde auf den Bällen an der Plaza und die erschreckenden Warnungen der älteren Bekannten brachten mich dazu, die Reise auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, der niemals kam. Heute erinnere ich mich aber als glücklichen Zwischenfall daran, denn weil es nichts mit der phantastischen Marquesita wurde, vertiefte ich mich schon am nächsten Tag ins Schreiben meines ersten Romans, von dem nur der Titel übrig geblieben ist: La casa - Das Haus.
Der Roman sollte eine dramatische Geschichte aus dem Krieg der Tausend Tage an der kolumbianischen Karibikküste erzählen, über den ich bei einem früheren Aufenthalt in Carta-gena mit Manuel Zapata Olivella gesprochen hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er mir, ohne jeden Bezug zu meinem Projekt, ein Heftchen geschenkt, das sein Vater über einen Kriegsveteranen verfasst hatte; dessen Porträt auf der Vorderseite - im weißen liquilique und mit pulverversengtem Schnurrbart -erinnerte mich irgendwie an meinen Großvater. Den Vornamen habe ich vergessen, aber der Nachname sollte mich für immer begleiten: Buendía. Seitdem dachte ich daran, einen Roman mit dem Titel La casa über die Geschichte einer Familie zu schreiben, die zur Zeit der vergeblichen Kriege des Obersts Márquez viel mit der unseren zu tun hatte.
Der Titel gründete auf der Absicht, die Einheit des Orts zu wahren, die Handlung
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