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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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versuchte, die Familie mit dem Märchen zu begeistern, dass dort das Geld auf der Straße liege, sagte Mina: »Das Geld ist der Scheißhaufen des Teufels.« Für meine Mutter war Cataca das Reich aller Schrecken. Der früheste Schrecken, an den sie sich erinnerte, war die Heuschreckenplage, von der die Felder verheert wurden, als sie noch ein kleines Kind war. »Es hörte sich an wie ein Wind aus Steinen«, sagte sie zu mir, als wir zum Verkauf des Hauses fuhren. Die entsetzten Einwohner hatten sich in ihren Zimmern verbarrikadieren müssen, und nur durch Hexenkünste war man der Geißel Herr geworden.
    Zu jeder Jahreszeit wurden wir von trockenen Hurrikanen überrascht, sie trugen die Dächer der Hütten fort, fielen die frischen Bananenstauden an und hinterließen einen Sternen-staub, der das ganze Dorf bedeckte. Im Sommer suchten furchtbare Dürreperioden das Vieh heim, im Winter fielen kosmische Platzregen und verwandelten die Straßen in reißende Flüsse, auf denen die Ingenieure der Gringos in Gummibooten zwischen ertrunkenen Matratzen und toten Kühen fuhren. Die United Früh Company, deren künstliches Bewässerungssystem für das Wasserchaos verantwortlich war, leitete den Fluss um, als die übelste dieser Sintfluten die Leichen auf dem Friedhof an die Oberfläche schwemmte.
    Die unheilvollste Plage waren jedoch die Menschen. Eine Eisenbahn, die wie ein Spielzeug aussah, spuckte auf den sengenden Sand des Ortes einen Laubsturm von Abenteurern aus aller Welt, die mit der Waffe in der Hand die Herrschaft über die Straßen übernahmen. Durch die ungestüme Prosperität stieg die Einwohnerzahl rapide, was zu einem unkontrollierbaren sozialen Durcheinander führte. Aracataca lag nur fünf Kilometer von der am Rio Fundacion gelegenen Strafkolonie Buenos Aires entfernt, deren Gefangene am Wochenende auszureißen pflegten, um in Aracataca den wilden Mann zu spielen. Am meisten ähnelte unser Ort den aufstrebenden Städtchen aus den Wildwestfilmen, besonders seitdem die Chimila-Hütten aus Palmstroh und Bambus allmählich durch die Holzhäuser der United Fruit Company ersetzt worden waren, Häuser mit Satteldächern aus Zinkblech, Fenstern mit Markisen und überdachten Gängen, die traurig blühende Kletterpflanzen zierten. Inmitten dieses Wirbels von unbekannten Gesichtern, von Zelten auf den öffentlichen Verkehrswegen, von Männern, die sich auf der Straße umzogen, Frauen, die mit geöffneten Regenschirmen auf ihren Koffern saßen, von vielen, vielen Maultieren, die in den Pferchen des Hotels verhungerten, waren die zuerst Gekommenen die Letzten. Wir blieben die Fremdlinge, die Zugereisten.
    Gemetzel fanden nicht nur bei den samstäglichen Schlägereien statt. An einem ganz gewöhnlichen Nachmittag hörten wir Schreie auf der Straße und sahen einen Mann ohne Kopf auf einem Esel vorbeireiten. Auf einer Plantage waren alte Rechnungen beglichen worden, dabei hatte man ihn mit der Machete enthauptet, und sein Kopf war vom eisigen Strom des Bewässerungsgrabens mitgerissen worden. In jener Nacht hörte ich von meiner Großmutter die übliche Erklärung: »So etwas Grauenvolles kann nur ein Cachaco gemacht haben.«
    Cachacos waren aus der anderen Hochebene Gebürtige, und vom Rest der Menschheit unterschieden sie sich für uns nicht nur, weil sie geziert taten und gestelzt sprachen, sondern auch, weil sie sich wie Boten der göttlichen Vorsehung aufführten. Dieses Auftreten erregte zunehmend Abscheu, so dass wir nach der grausamen Repression der Bananenstreiks durch Truppen aus dem Landesinneren die Soldaten nur noch Cachacos nannten. Wir sahen in ihnen die einzigen Nutznießer der politischen Macht, und viele von ihnen verhielten sich auch entsprechend. Nur so lässt sich der Horror der » Schwarzen Nacht von Aracataca« erklären, ein legendäres Blutbad, das eine so Ungewisse Spur im Gedächtnis des Volkes hinterlassen hat, dass es keinen sicheren Beweis dafür gibt, ob es tatsächlich stattgefunden hat.
    Es begann an einem besonders schlimmen Sonnabend, als ein rechtschaffener Ortsansässiger, dessen Name nicht überliefert ist, mit einem Kind an der Hand in eine Bar trat und um ein Glas Wasser für den Kleinen bat. Ein Fremder, der allein am Tresen stand, wollte den Jungen zwingen, statt des Wassers einen Schluck Rum zu trinken. Der Vater versuchte das zu verhindern, der Fremde bestand jedoch darauf, bis der verängstigte Junge aus Versehen mit einem Handschlag den Rum verschüttete. Woraufhin der Fremde ihn

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