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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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ihr, verängstigt von dem Gezwinker der Heiligen im ewigen Licht, das erst gelöscht wurde, als alle Bewohner des Hauses gestorben waren. Dort hatte auch meine Mutter vor ihrer Heirat geschlafen, ebenfalls von der Furcht vor den Heiligen gepeinigt.
    Am Ende des Korridors lagen zwei Zimmer, die mir verboten waren. Im ersten wohnte meine Kusine Sara Emilia, eine voreheliche Tochter meines Onkels Juan de Dios, die von den Großeltern aufgezogen wurde. Schon als Kind war sie von auffallender natürlicher Schönheit und hatte zudem einen eigenwilligen Charakter, und sie weckte meinen ersten literarischen Appetit mit der wunderbaren, bunt kolorierten Märchensammlung von Calleja, an die sie mich nicht heranließ, weil sie Angst hatte, ich könnte das Konvolut aus einzelnen Heften durcheinander bringen. Das war meine erste bittere Enttäuschung als Schriftsteller.
    Das letzte Zimmer diente als Rumpelkammer für Trödel und ausgediente Koffer, die über Jahre meine Neugier wach hielten, die ich aber nie erkunden durfte. Später erfuhr ich, dass dort auch die siebzig Nachttöpfe lagerten, die meine Großeltern gekauft hatten, als meine Mutter ihre Klassenkameradinnen über die Ferien ins Haus eingeladen hatte.
    Diesen beiden Räumen gegenüber, am selben Gang, lag die große Küche mit primitiven Kohlenbecken aus gebrannten Steinen und dem großen Backofen der Großmutter, die von Beruf Bäckerin und Konditorin war und deren Karamelltierchen den frühen Morgen mit ihrem köstlichen Aroma erfüllten. Dies war das Reich der Frauen, die im Haus wohnten oder dienten und im Chor mit der Großmutter sangen, während sie ihr bei ihren vielfältigen Arbeiten zur Hand gingen. Eine weitere Stimme war die von Lorenzo el Magnifico, dem hundertjährigen Papageien, den man von den Großeltern geerbt hatte und der Parolen gegen Spanien rief und Lieder aus dem Unabhängigkeitskrieg sang. Er sah so schlecht, dass er eines Tages in den Eintopf fiel und nur deshalb heil davonkam, weil das Wasser gerade erst warm wurde. An einem 20. Juli, um drei Uhr nachmittags, versetzte er das Haus mit seinem panischen Kreischen in Aufruhr: »Der Stier, der Stier! Da kommt der Stier!« Nur die Frauen waren im Haus, da die Männer zum Stierkampf anlässlich des Nationalfeiertags gegangen waren, und wir dachten, die Schreie des Papageien seien auf eine Wahnvorstellung seiner Altersdemenz zurückzuführen. Die Frauen des Hauses, die mit ihm sprechen konnten, begriffen erst, was er schrie, als ein endlaufener Stier, der aus den Ställen der Stierkampfarena ausgebrochen war, mit dem Gebrüll eines Dampfers in die Küche stürmte und blindlings gegen die Möbel der Backstube und die Töpfe auf den Feuerstellen rannte. Ich lief gerade Richtung Küche, dem Sturmwind entsetzter Frauen entgegen, die mich packten, hochhoben und sich mit mir in der Speisekammer einschlössen. Das Brüllen des in der Küche herumirrenden Stieres und das Klappern seiner Hufe auf dem Zementboden des Korridors erschütterten das Haus. Plötzlich streckte er den Kopf durch eine Lüftungsluke, und sein feuriges Schnauben und seine großen, rot geäderten Augen ließen mein Blut gefrieren. Als es den Picadores gelang, ihn zurück zu den Ställen zu bringen, hatte im Haus bereits die Feier des Dramas begonnen, die sich über eine Woche hinzog, und viele Töpfe Kaffee und etliche Hochzeitskuchen begleiteten den tausendfach wiederholten und mit jedem Mal heroischeren Bericht der Frauen.
    Der Hof wirkte nicht sehr groß, aber es standen viele verschiedene Bäume darin, und es gab ein Bad für alle, das nicht überdacht war, mit einer Zisterne für das Regenwasser und einer erhöhten Plattform, zu der man auf einer gebrechlichen, drei Meter langen Leiter steigen konnte. Dort oben standen die beiden großen Wassertonnen, die der Großvater frühmorgens mit einer Handpumpe füllte. Hinter dem Bad lag der Pferdestall aus rohen Holzbrettern, an den die Zimmer für das Personal anschlössen, und am Ende dann der riesige Hinterhof mit Obstbäumen und der einzigen Latrine, in welche die angestellten Indiofrauen von früh bis spät die Nachttöpfe des Hauses leerten. Der schattigste und gastfreundlichste Baum war eine Kastanie, die jenseits der Zeit und der Welt aufragte und unter deren uralter Krone mehr als zwei pensionierte Oberste der zahlreichen Bürgerkriege des vorigen Jahrhunderts pinkelnd gestorben sein müssen.
    Die Familie war siebzehn Jahre vor meiner Geburt nach Aracataca gezogen, als die

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