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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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verkaufen, was ihm nach dem letzten Krieg geblieben war, um sich sein Brot zu verdienen: die Goldschmiedewerkstatt und eine kleine vom Vater ererbte Finca, auf der er Ziegen zum Schlachten zog und auf einer Parzelle Zucker anbaute. Nach sechs Monaten verwahrte er in der Tiefe eines Schranks das zusammengekommene Geld und wartete schweigend den Tag ab, den er sich selbst gesetzt hatte: den 12. Oktober 1908, Jahrestag der Entdeckung Amerikas.
    Medardo Pacheco lebte außerhalb des Städtchens, der Großvater wusste jedoch, dass er an jenem Nachmittag nicht bei der Prozession der Jungfrau von Pilar fehlen würde. Bevor der Oberst sich auf den Weg machte, schrieb er seiner Frau einen kurzen, zärtlichen Brief, in dem er ihr mitteilte, wo das Geld versteckt war, und ihr einige letzte Anweisungen für die Zukunft seiner Kinder gab. Er legte den Brief unter das gemeinsame Kopfkissen, wo seine Frau, wenn sie sich schlafen legte, ihn zweifellos finden würde, und ging ohne jeden Abschied seiner bösen Stunde entgegen.
    Auch die unwahrscheinlicheren Versionen stimmen darin überein, dass es ein für den Oktober in der Karibik typischer Montag war, ein trister Regen fiel aus niedrigen Wolken, dazu wehte ein Grabeswind. Medardo Pacheco, sonntäglich gekleidet, war gerade in eine dunkle Gasse eingebogen, als Oberst Márquez sich ihm in den Weg stellte. Beide waren bewaffnet. Jahre später sagte die Großmutter in ihren verwirrten Reden immer wieder: »Gott hat Nicolasito die Gelegenheit gegeben, diesem armen Mann das Leben zu schenken, aber er hat sie nicht zu nutzen gewusst.« Vielleicht meinte sie das, weil der Oberst ihr erzählt hatte, dass er in den Augen des überraschten Gegners Wehmut habe aufblitzen sehen. Er hatte ihr auch gesagt, dass der riesige Körper, als er wie ein Ceibastamm ins Gestrüpp stürzte, einen wortlosen Klagelaut von sich gab, »wie ein nass gewordenes Kätzchen«. Die orale Tradition schreibt Papalelo eine rhetorische Phrase zu, die er im Augenblick, als er sich dem Bürgermeister stellte, gesagt haben soll: »Die Kugel der Ehre hat über die Kugel der Macht gesiegt.« Das ist eine Sentenz, die dem Stil der Liberalen jener Zeit entspricht, aber ich habe sie nicht mit der Haltung des Großvaters vereinbaren können. Die Wahrheit ist, es gab keine Zeugen. Das Gerichtsprotokoll der Aussagen des Großvaters und der Geladenen von beiden Parteien wäre eine autorisierte Version gewesen, doch von der Akte, wenn es sie denn gegeben hat, ist nichts erhalten. Und von den vielen mündlichen Versionen, die ich bis zum heutigen Tage gehört habe, stimmten keine zwei überein.
    Das Ereignis entzweite die Familien im Ort, sogar die Familie des Toten. Ein Teil von ihr wollte ihn rächen, während andere Verwandte Tranquilina Iguarán und ihre Kinder bei sich aufnahmen, bis die Gefahr einer Vergeltung geringer geworden war. Diese Details haben mich als Kind so beschäftigt, dass ich nicht nur die Bürde der großväterlichen Schuld auf mich nahm, als sei es meine eigene, sondern noch heute, da ich dies schreibe, mehr Mitgefühl für die Familie des Toten als für meine eigene empfinde.
    Papalelo wurde aus Sicherheitsgründen nach Riohacha und später nach Santa Marta gebracht, wo sie ihn zu einem Jahr verurteilten: die Hälfte davon im Gefängnis und die andere im offenen Vollzug. Sobald er wieder frei war, reiste er mit der 1 Familie für kurze Zeit nach Ciénaga, dann nach Panama, wo er mit einer Zufallsliebe eine Tochter zeugte, und bekam schließlich in der ungesunden und unbotmäßigen Gemeinde Aracataca eine Stellung als Bezirkssteuereinnehmer. Nie wieder ging er bewaffnet auf die Straße, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten der Gewalt während des Bananenbooms, und hatte den Revolver nur unter dem Kopfkissen liegen, um das Haus verteidigen zu können.
    Aracataca war keineswegs die Oase der Ruhe, von der die Großeltern nach dem Albtraum mit Medardo Pacheco geträumt hatten. Der Ort war als Dorf der Chimila-Indios entstanden und stieg mit dem falschen Fuß in die Geschichte ein, eine abgelegene Gemeinde des Bezirks Ciénaga, ohne Gott und Gesetz, vom Bananenfieber eher verdorben als begünstigt. Aracataca ist nicht der Name eines Dorfes, sondern der eines Flusses, der in der Sprache der Chimilas Ära heißt; Cataca wiederum bezeichnet denjenigen, der in der Gemeinschaft das Sagen hatte. Deshalb nennen wir Einheimischen den Ort nicht Aracataca, sondern, wie es sich gehört, Cataca.
    Als der Großvater

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