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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Höhe eines halben Wasserglases an und schloss:
    »Nur so groß.«
    Ich fand das amüsanter als er, fragte ihn, wo ich mich denn hinsetzen könne, und er zeigte auf einen Schreibtisch mit einer Maschine aus anderen Zeiten. Dort richtete ich mich, ohne viel zu fragen, ein und überlegte mir einen passenden Text, um dann die nächsten achtzehn Monate auf eben dem Stuhl, an eben dem Tisch und an eben der Schreibmaschine zu sitzen.
    Ein paar Minuten nach meiner Ankunft kam Eduarde Zalamea Borda, der zweite Direktor, aus dem Nachbarbüro. Er war in ein Bündel Papiere vertieft und erschrak, als er mich erkannte.
    »Mann, Don Gabo!« Er schrie fast den Namen, den er sich für mich in Barranquilla als Kürzel für Gabito ausgedacht hatte und den nur er benutzte. Doch diesmal sollte sich dieser Name in der Redaktion durchsetzen und sogar gedruckt erscheinen: Gabo.
    Ich erinnere mich nicht mehr an das Thema des Artikels, den ich für Guillermo Cano schreiben sollte, kannte aber noch aus meiner Universitätszeit gut den ehrwürdigen Stil von El Espectador. Der wurde besonders in der Rubrik »Dia a día« - Von Tag zu Tag - auf der Kommentarseite gepflegt, die ein wohlverdientes Prestige genoss, und ich beschloss diesen Stil mit der gleichen Kaltblütigkeit zu imitieren, mit der Luisa Santiaga den Dämonen eines widrigen Schicksals entgegentrat. Ich schrieb den Artikel in einer halben Stunde, korrigierte einiges handschriftlich und übergab ihn Guillermo Cano, der ihn, über seine Brille hinwegblickend, im Stehen las. In seiner Konzentration schien sich eine ganze Dynastie weißhaariger Vorfahren versammelt zu haben, angeführt von Don Fidel Cano, der 1887 die Zeitung gegründet hatte, gefolgt von seinem Sohn Don Luis, dann von dessen Bruder Gabriel, der das Unternehmen konsolidiert hatte und der gewachsenen Tradition entsprechend seinem Enkel Guillermo übertragen hatte, der nun, gerade dreiundzwanzigjäh-rig, zum Generaldirektor ernannt worden war. Ganz wie seine Vorfahren es getan hätten, machte er ein paar Korrekturen, um kleinere Zweifel auszuräumen, und beendete das Ganze, indem er zum ersten Mal meinen neuen vereinfachten Namen verwendete:
    »Gut gemacht, Gabo.«
    Am Abend meiner Rückkehr war mir klar geworden, dass Bogotá für mich nicht mehr dieselbe Stadt sein würde, solange meine Erinnerungen überlebten. Wie so viele große Katastrophen des Landes hatte auch der 9. April mehr für das Vergessen als für die Geschichte bewirkt. Das Hotel Granada in seinem hundertjährigen Park war abgerissen worden, und dort wuchs nun das peinlich neue Gebäude vom Banco de la Repüblica in die Höhe. Die alten Straßen aus unseren Studentenjahren schienen ohne die erleuchteten Trambahnen niemandem zu gehören, und die Straßenkreuzung des historischen Verbrechens hatte mit dem durch die Brände hinzugewonnenen Raum eher an Größe verloren. »Jetzt sieht es hier wirklich nach Großstadt aus«, staunte jemand, der uns begleitete. Und erschütterte mich vollends mit der ritualisierten Bemerkung:
    »Dem 9. April sei Dank.«
    Dagegen fühlte ich mich in der namenlosen Pension, in die mich Álvaro Multis einquartiert hatte, wohl wie nie zuvor. Es war ein vom Unglück verschöntes Haus neben dem Parque Nacional, und während der ersten Nacht setzte mir der Neid auf meine Zimmernachbarn zu, die sich der Liebe hingaben, als sei sie ein glücklicher Krieg. Als ich die beiden am nächsten Tag aus der Tür kommen sah, wollte ich nicht glauben, dass sie es waren: ein mageres Mädchen in einem Kleid wie aus dem staatlichen Waisenhaus und ein alter Mann, platinweiß und zwei Meter groß, der gut und gerne ihr Großvater hätte sein können. Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt, aber sie sorgten in all den folgenden Nächten mit tödlichen Schreien bis zum Morgengrauen für den Beweis ihrer Identität.
    El Espectador veröffentlichte meinen Text an hervorgehobener Stelle auf der Meinungsseite. Ich verbrachte den Vormittag in den Kaufhäusern, wo Mutis mir mit dem polternden englischen Akzent, den er sich ausgedacht hatte, um die Verkäufer zu amüsieren, alle möglichen Kleidungsstücke aufschwatzte. Zu Mittag aßen wir mit Gonzalo Mallarino und anderen jungen Schriftstellern, die man eingeladen hatte, um mich in die Gesellschaft einzuführen. Von Guillermo Cano hörte ich erst wieder drei Tage später, als er mich im Büro von Mutis anrief.
    »Hören Sie mal, Gabo, wo sind Sie denn abgeblieben?«, sagte er mit der aufgesetzten

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