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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Stunde verschlungen wurde. Eduardo Zalamea Borda hatte einmal über die BBC London erklärt, dass El Espectador die beste Zeitung der Welt sei. Heikel war aber nicht diese Erklärung, sondern vielmehr die Tatsache, dass fast alle, die das Blatt machten, und auch viele seiner Leser überzeugt waren, dass es stimmte.
    Ich muss gestehen, dass am Tag nach der Absage der HaitiReise mein Herz einen Sprung tat, als mich Luis Gabriel Cano, der Geschäftsführer, in sein Büro kommen ließ. Die Unterredung dauerte bei aller Förmlichkeit keine fünf Minuten. Luis Gabriel hatte den Ruf, ein abweisender Mensch zu sein, großzügig zu Freunden, aber als guter Geschäftsführer geizig, auf mich wirkte er jedoch sehr direkt und herzlich, und das blieb auch immer so. Feierlich machte er mir das Angebot, als fester Redakteur der Zeitung allgemein informierende Artikel, Kommentare und Glossen zu schreiben sowie das, was im Chaos vor Redaktionsschluss noch anfiele; das monatliche Gehalt betrage neunhundert Pesos. Mir blieb die Luft weg. Als ich wieder atmen konnte, fragte ich noch einmal nach, und er wiederholte es mir, Silbe für Silbe: neunhundert. Ich war so erschüttert, dass mein lieber Luis Gabriel es als Ausdruck der Ablehnung auffasste, wie er mir Monate später auf einem Fest erzählte. Den letzten Zweifel an meiner Anstellung hatte sein Bruder Don Gabriel mit berechtigter Furcht geäußert: »Der ist so mager und bleich, dass er uns im Büro wegsterben könnte.« So kam ich als fester Redakteur zu El Espectador, wo ich in knapp zwei Jahren das meiste Papier meines Lebens verbraucht habe.
    Es war ein glücklicher Zufall. Der Patriarch Don Gabriel Cano war an der Zeitung besonders gefürchtet, weil er sich selbst zum unerbittlichen Inquisitor der Redaktion bestellt hatte. Mit seiner scharfen Lupe las er bis zum letzten Komma die Ausgabe des Tages, strich mit roter Tinte die Schnitzer in jedem Artikel an und hängte die getadelten Beiträge mit vernichtenden Kommentaren versehen an einem schwarzen Brett aus. Das Brett hieß vom ersten Tag an »Die Schandmauer«, und ich kann mich an keinen Redakteur erinnern, der Don Gabriels blutiger Feder entronnen wäre.
    Die spektakuläre Beförderung des dreiundzwanzigjährigen Guillermo Cano zum Direktor von El Espectador war wohl weniger eine frühe Frucht seiner persönlichen Verdienste als die Erfüllung einer Bestimmung, die schon vor seiner Geburt feststand. Überrascht bemerkte ich bald, dass er tatsächlich die Zeitung leitete, während viele von uns Außenstehenden ihn nur für einen folgsamen Sohn gehalten hatten. Besonders fiel mir auf, wie schnell er eine Nachricht erkannte.
    Manchmal musste er gegen alle andiskutieren, auch mit wenigen Argumenten, bis er sie von der Richtigkeit seiner Einschätzung überzeugt hatte. Es war eine Zeit, in der Journalismus noch nicht an den Universitäten gelehrt wurde, man lernte diesen Beruf vielmehr mit dem Geruch der Druckerschwärze in der Nase von der Pike auf, und El Espectador besaß die besten Lehrmeister, die über ein gutes Herz, aber eine harte Hand verfügten. Auch Guillermo Cano hatte dort zu schreiben begonnen, hatte Stierkampfberichte verfasst, die so streng und fachkundig waren, dass man hätte meinen können, er sei eher zum Stierkämpfer denn zum Journalisten berufen. Es muss für ihn die härteste Prüfung seines Lebens gewesen sein, als er von einem Tag auf den anderen ohne Zwischenstationen vom Lehrjungen zum obersten Meister befördert wurde. Keiner, der ihn nicht näher kannte, hätte hinter seiner sanften und etwas ausweichenden Art seine schreckliche Willensstärke erahnen können. Mit entsprechender Leidenschaft zog er in große und gefährliche Schlachten, und selbst das Wissen, dass auch hinter dem nobelsten Engagement der Tod lauern kann, hielt ihn nicht auf.
    Ich habe nie wieder jemanden kennen gelernt, der sich dem öffentlichen Leben so entzog, jede persönliche Ehrung ablehnte und für die Lobhudeleien der Macht unerreichbar war. Er war ein Mann, der nur wenige Freunde hatte, aber diese wenigen waren sehr gute Freunde, und ich hatte vom ersten Tag an das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Vielleicht hat der Umstand dazu beigetragen, dass ich in einer Redaktion von ausgekochten Veteranen einer der Jüngsten war, was zwischen uns beiden ein Gefühl der Komplizenschaft wachsen ließ, das sich nicht verlor. Vorbildhaft an dieser Freundschaft war, dass sie über alle Widersprüche hinweg Bestand hatte. Die politischen

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