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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Strenge eines leitenden Direktors. »Gestern waren wir bei Redaktionsschluss zu spät dran, weil wir auf Ihren Beitrag gewartet haben.«
    Ich ging hinunter in die Redaktion, um mich mit ihm zu unterhalten, und ich weiß immer noch nicht, wie es kam, dass ich noch über eine Woche lang jeden Nachmittag unsignierte Beiträge schrieb, ohne dass jemand mit mir über ein Honorar oder eine Anstellung geredet hätte. In den Gesprächsrunden der Pausen behandelten mich die Redakteure wie einen der Ihren, und in der Praxis war ich das ja auch, auch wenn ich mir dieses Umstands nicht so recht bewusst war.
    Die Rubrik »Dia a día«, die niemals signiert war, wurde routinemäßig mit einem politischen Artikel von Guillermo Cano aufgemacht. Nach einer von der Leitung festgelegten Ordnung folgte ein Beitrag mit freiem Thema von Gonzalo Gonzales, der zudem die außerordentlich intelligente und populäre Sektion »Preguntas y respuestas« - Fragen und Antworten - leitete, wo er unter dem Pseudonym Gog auf alle Anfragen der Leser einging -Gog nicht nach Giovanni Papim, sondern nach seinem eigenen Namen. Danach kamen meine Artikel und gelegentlich ein Sonderbeitrag von Eduardo Zalamea, der im Übrigen täglich den besten Platz der Meinungsseite »La ciudad y el mundo« - Die Stadt und die Welt - bekam; er signierte mit dem Pseudonym Ulises, nicht nach Homer, wie er klarzustellen pflegte, sondern nach James Joyce.
    Kurz nach Neujahr sollte Álvaro Mutis eine Geschäftsreise nach Port au Prince unternehmen, und er lud mich ein mitzukommen. Seit ich Alejo Carpentiers Das Reich von dieser Welt gelesen hatte, war Haiti mein Traumland. Ich hatte Mutis noch nicht zugesagt, als ich am 18. Februar eine Glosse über die englische Königinmutter schrieb, die einsam in den Weiten des Buckingham Palasts residierte. Mir fiel auf, dass man meine Glosse an erster Stelle in »Día a día« veröffentlicht hatte und in den Büros wohlwollend darüber gesprochen wurde. An diesem Abend machte Eduardo Zalamea auf einem kleinen Fest bei José Salgar, dem Chefredakteur, eine geradezu begeisterte Bemerkung über meinen Text. Später hörte ich hinter vorgehaltener Hand von einem wohlmeinenden Kollegen, dass Zalameas Urteil die letzten Vorbehalte beiseite geräumt habe, die einem förmlichen Stellenangebot von Seiten der Direktion noch im Wege standen.
    Am nächsten Tag rief mich Álvaro Mutis früh am Morgen in sein Büro, um mir die traurige Mitteilung zu machen, dass die Reise nach Haiti gestrichen sei. Er erzählte mir aber nicht, dass dieser Entschluss nach einem zufälligen Gespräch mit Guillermo Cano gefallen war, da dieser ihn gebeten hatte, mich auf keinen Fall nach Port au Prince mitzunehmen. Álvaro, der Haiti auch noch nicht kannte, wollte wissen, warum. »Wenn du das Land siehst«, sagte Guillermo, »wirst du begreifen, dass Gabo sich genau dafür unendlich begeistern könnte.« Und er schloss den Abend mit einem meisterlichen Schachzug:
    »Wenn Gabo nach Haiti fährt, kommt er nie wieder zurück.«
    Álvaro verstand, sagte die Reise ab und stellte es mir gegenüber als Entscheidung der Firma dar. Also lernte ich Port au Prince nie kennen, erfuhr den wirklichen Grund dafür aber erst vor ein paar Jahren, als Álvaro mir bei einem unserer endlosen Erinnerungsgespräche unter Großvätern davon erzählte. Nachdem Guillermo mich dann mit einem Vertrag an die Zeitung gebunden hatte, kam er jahrelang immer wieder darauf zurück, dass ich eine große Reportage über Haiti einplanen solle, aber ich habe es nie geschafft, dorthin zu fahren, und ihm auch nicht gesagt, warum.
    Ich hätte nie zu träumen gewagt, einmal fest angestellter Redakteur bei El Espectador sein zu können. Es schien mir zwar verständlich, dass sie meine Erzählungen veröffentlichten, da diese Gattung in Kolumbien kaum vertreten war, doch die tägliche Redaktionsarbeit in einer Abendzeitung war eine besondere Herausforderung für jemanden, der wie ich kaum Erfahrungen mit dem harten Tagesjournalismus hatte. El Espectador, nun ein halbes Jahrhundert alt, war in einem angemieteten Haus und mit ausrangierten Maschinen von El Tiempo, einer reichen, mächtigen und überheblichen Tageszeitung, groß geworden, war aber trotzdem noch ein bescheidenes Abendblatt mit sechzehn eng bedruckten Seiten, dessen Auflage von höchstens fünftausend Exemplaren den Ausrufern fast schon an den Toren der Druckerei aus den Händen gerissen und dann in den düsteren Cafés der Altstadt in einer halben

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