Leben, um davon zu erzählen
Meinungsverschiedenheiten wurden immer größer, je mehr die Welt aus den Fugen geriet, aber wir haben immer eine Ebene gefunden, auf der wir weiterhin gemeinsam für die Dinge kämpfen konnten, die uns gerecht erschienen.
Der Redaktionssaal war riesig, auf beiden Seiten standen Schreibtische, und die Atmosphäre war bestimmt von guter Laune und harten Scherzen. Dort saß etwa Darío Bautista, eine Art Gegenminister der Finanzen, der vom ersten Hahnenschrei an damit beschäftigt war, den höchsten Staatsbeamten mit seinen meist zutreffenden und stets unheilvollen Prognosen den Sonnenaufgang zu vergällen. Da war Felipe González Toledo, ein geborener Gerichtsreporter, der o ft den offiziellen Untersuchungen bei der Aufklärung von Ungerechtigkeiten oder Verbrechen zuvorkam. Guillermo Lanao war für mehrere Ministerien zuständig und behielt das Geheimnis für sich, wie man bis ins fortgeschrittene Alter hinein ein Kind bleibt. Rogelio Echavarría, ein großer Lyriker, war für die Morgenausgabe verantwortlich - er wurde nie bei Tageslicht gesehen. Mein Vetter Gonzalo González, der ein eingegipstes Bein vom Fußballspielen hatte, musste sich um die Fragen der Leser beantworten zu können, stets über dies und jenes kundig machen und wurde so schließlich zum Fachmann für alles. Obwohl er an der Universität ein erstklassiger Fußballer gewesen war, glaubte er unerschütterlich daran, dass sich jedwede Sache theoretisch erfassen ließ, auch jenseits aller praktischen Erfahrung. Den schlagenden Beweis dafür lieferte er uns bei einem Kegelturnier unter Journalisten, als wir bis zum Morgengrauen auf den Kegelbahnen übten, er dagegen sich mit einem Handbuch an das Studium der physikalischen Gesetze des Spiels machte und auf diese Weise Champion des Jahres wurde.
Mit solchen Leuten war der Aufenthalt im Redaktionssaal eine ständige Erquickung, immer nach dem Motto von Darío Bautista oder Felipe González Toledo: »Wer nicht zufrieden ist, soll sich selbst einen blasen.« Jeder kannte die Themen der anderen, und man half, soweit man konnte und sollte. Die allgemeine Beteiligung war derart groß, dass man fast sagen konnte, man arbeite im Gespräch. Wenn es aber hart auf hart ging, war kein Atemzug zu hören. Von dem einzigen quer stehenden Schreibtisch am Ende des Raums aus regierte José Salgar, der ab und zu den Redaktionssaal abschritt, der informierte und sich informieren ließ, während er zur therapeutischen Entspannung mit Stiften jonglierte.
Ich glaube, der Nachmittag, an dem mich Guillermo Cano von Tisch zu Tisch führte, um mich in die Gesellschaft einzuführen, war die Feuerprobe für meine unbesiegbare Schüchternheit. Es verschlug mir die Sprache, und meine Knie gaben nach, als Darío Bautista, ohne aufzusehen, mit seiner schrecklichen Donnerstimme brüllte:
»Das Genie ist da!«
Mir fiel nichts anderes ein, als mich mit einem theatralischen Schritt im Halbkreis zu drehen und dabei mit ausgestrecktem Arm auf alle Anwesenden zu weisen, wobei ich nicht eben geistreich sagte, was mir in den Sinn kam:
»Ihnen allen zu dienen.«
Immer noch leide ich unter dem Eindruck des allgemeinen Pfeifkonzerts, spüre aber auch den Trost der Umarmungen und der guten Worte, mit denen jeder Einzelne mich willkommen hieß. Von dem Augenblick an gehörte ich zu jener Gemeinschaft barmherziger Tiger, deren Freundschaft und Mannschaftsgeist niemals schwächelte. Brauchte ich auch nur die kleinste Information für einen Artikel, konnte ich zu dem entsprechenden Redakteur gehen, und er ließ mich garantiert nicht im Stich.
Meine erste wichtige Lektion als Reporter erhielt ich von Guillermo Cano, und die ganze Redaktion teilte diese Erfahrung, als an einem Nachmittag ein Platzregen über Bogotá niederging, der die Stadt drei Stunden lang sintflutartig überschwemmte. Die aufgewühlten Wassermassen stürzten die Avenida Jiménez de Quesada hinunter, rissen auf ihrem Wege alles Mögliche von den Berghängen mit und hinterließen auf den Straßen Spuren der Verheerung. Fahrzeuge aller Art und auch die öffentlichen Verkehrsmittel blieben dort, wo das Unwetter sie überrascht hatte, stecken, und Tausende von Fußgängern flüchteten sich stolpernd und drängelnd in die überfluteten Gebäude, bis für keinen mehr Platz war. Wir waren bei Redaktionsschluss von dem Desaster überrascht worden und betrachteten das traurige Spektakel von den Fenstern aus. Wie Kinder, die mit den Händen in den Hosentaschen in der Ecke stehen
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