Leben, um davon zu erzählen
Bataillons Colombia erschossen worden. Es war der erste Zusammenstoß zwischen Zivilisten und den regierenden Streitkräften. Von dort aus, wo ich stand, hörte ich nur die lautstarke Diskussion zwischen den Studenten, die zum Präsidentenpalast weiterziehen wollten, und den Militärs, die eben das verhinderten. Mitten im Getümmel war nicht genau zu verstehen, was da geschrien wurde, doch in der Luft lag Spannung. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, ertönte eine Maschinenge-wehrsalve und danach gleich noch zwei weitere. Mehrere Stu-denten und einige Passanten waren sofort tot. Den Überlebenden, die versuchen wollten, die Verletzten ins Hospital zu bringen, wurde das mit Gewehrkolben ausgeredet. Die Truppe räumte den Ort und sperrte die Straßen. Bei der allgemeinen Flucht erlebte ich einige Sekunden lang noch einmal den ganzen Horror des 9. April, am selben Ort und zur gleichen Uhrzeit.
Ich rannte die steile Straße zum Gebäude von El Especta-dor hoch, und dort machte sich die Redaktion gerade klar zum Gefecht. Ich erzählte keuchend, was ich am Ort des Gemetzels hatte sehen können, aber einer, der kaum etwas davon wusste, war bereits dabei, in aller Eile den ersten Bericht über die neun toten Studenten und den Zustand der Verletzten in den Hospitälern zu verfassen. Ich war mir sicher gewesen, dass man mich beauftragen würde, über den Zusammenstoß zu schreiben, war ich doch als einziger Zeuge des Vorfalls gewesen, doch Guillermo Cano und José Salgar hatten sich schon für einen kollektiv geschriebenen Bericht entschieden, zu dem jeder das Seine beisteuern sollte. Der verantwortliche Redakteur war Felipe González Toledo, der dann für die Einheit des Textes sorgen würde.
»Sie können ganz ruhig sein«, sagte Felipe, den meine Enttäuschung beschäftigte, »die Leute wissen, dass wir hier alle an allem schreiben, auch wenn kein Name darunter steht.«
Ulises wiederum tröstete mich mit dem Hinweis, dass der Kommentar, den ich schreiben sollte, womöglich das Wichtigste bei einer so schwer wiegenden Störung der öffentlichen Ordnung sei. Damit hatte er Recht, doch gng es um so heikle Fragen, die auch die Politik der Zeitung kompromittieren konnten, dass der Text mehrhändig geschrieben und auf höchster Ebene überarbeitet wurde. Ich glaube, diese Lösung wurde letztlich allen gerecht, doch damals erschien sie mir zutiefst entmutigend. Die Ereignisse läuteten das Ende der Flitterwochen der Militärregierung mit der liberalen Presse ein. Diese hatten acht Monate zuvor mit der Machtübernahme durch General Rojas Pinilla begonnen, und das Land hatte nach dem von zwei konservativen Regierungen in Folge angezettelten Blutbädern endlich einmal erleichtert aufatmen können, an jenem Tag jedoch war der Honigmond vorbei. Und für meine schlichten Reporterträume war es ebenfalls eine Feuerprobe gewesen.
Kurz danach wurde das Foto der Leiche eines namenlosen Jungen, den sie im Seziersaal der Gerichtsmedizin nicht hatten identifizieren können, veröffentlicht, und das Bild erinnerte mich an ein vermisstes Kind, dessen Foto Tage zuvor abgedruckt worden war. Ich zeigte die beiden Bilder Felipe González Toledo, dem Leiter des Gerichtsressorts, und er benachrichtigte die Mutter des immer noch vermissten Jungen. Es war eine Lektion für die Ewigkeit. Die Mutter des Jungen wartete im Vorraum des Seziersaals auf Felipe und mich. Die Frau erschien mir so ärmlich und mitgenommen, dass ich mit aller Kraft meines Herzens wünschte, die Leiche möge nicht die ihres Sohnes sein. In dem lang gestreckten eisigen Kellerraum standen zwanzig grell beleuchtete Tische aufgereiht, auf denen sich unter schmuddligen Laken die Leichen wie Steintumuli abhoben. Wir drei folgten dem gemessen schreitenden Aufseher bis zum vorletzten Tisch. Unter dem Laken schauten am Fußende zwei traurige Stiefelchen hervor, deren beschlagene Absätze stark abgenutzt waren. Die Frau erkannte die Schuhe, wurde bleich, beherrschte sich aber mit letzter Kraft, bis der Wächter mit dem Schwung eines Toreros das Laken zurückschlug. Es war die Leiche eines etwa neunjährigen Jungen mit aufgerissenen, starren Augen, und sie steckte in eben der verdreckten Kleidung, in der man das Kind, schon einige Tage nach seinem Tod, in einem Straßengraben gefunden hatte. Die Mutter stieß einen Klageschrei aus und sackte laut weinend zu Boden. Felipe hob sie hoch und beruhigte sie mit tröstendem Gemurmel, während ich mich fragte, ob all das es wert war, von einem
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