Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
müssen, wussten wir nicht, was tun. Plötzlich schien Guillermo Cano aus einem abgrundtiefen Traum zu erwachen, wandte sich der gelähmten Redaktion zu und schrie:
    »Das Unwetter ist die Nachricht!«
    Es war ein unausgesprochener Befehl, der sofort befolgt wurde. Wir rannten alle an unsere Gefechtsstellungen, um uns über Telefon die sich überstürzenden Informationen zu verschaffen, die José Salgar von uns verlangte, damit jeder seinen Teil der großen gemeinsamen Reportage über das Jahrhundertunwetter schreiben konnte. Die Krankenwagen und die Funkstreifen, die im Noteinsatz waren, kamen in den von Fahrzeugen verstopften S t raßen nicht vorwärts. Die Abwasserleitungen in den Häusern waren durch die Flut blockiert, und das ganze Geschwader der Feuerwehr reichte nicht aus, um die Situation zu entschärfen. Ganze Stadtviertel mussten zwangsevakuiert werden, da ein städtischer Damm gebrochen war. In anderen Vierteln barsten die Kloaken. Die Gehsteige waren voll mit hinfälligen Greisen, Kranken und leblosen Kindern. Inmitten von diesem Chaos organisierten fünf Männer, die mit ihren Motorbooten normalerweise am Wochenende zum Fischen fuhren, eine Wettfahrt auf der besonders stark überfluteten Avenida Caracas. Solche rasch gewonnenen Informationen verteilte José Salgar an die Redakteure, die sie dann für die im Getümmel improvisierte Sonderausgabe aufbereiteten. Die Fotografen in ihren durchweichten Regenmänteln entwickelten in aller Eile die Filme. Kurz vor fünf schrieb Guillermo Cano einen glänzenden Leitartikel über eines der dramatischsten Unwetter im Gedächtnis der Stadt. Als der Regen endlich aufhörte, wurde mit kaum einer Stunde Verspätung die improvisierte Ausgabe von El Espectador verkauft, so wie immer, als sei es ein ganz normaler Tag. Mein Verhältnis zu José Salgar war zunächst reichlich schwierig, jedoch produktiv wie kein anderes. Ich glaube, bei ihm lag das Problem genau andersherum als bei mir: Stets versuchte er seine Redakteure zum hohen C anzuspornen, während ich danach verlangte, auf die richtige Tonart eingestimmt zu werden. Aber meine anderen Verpflichtungen bei der Zeitung nahmen mich ganz in Beschlag, und mir blieben nur am Sonntag noch freie Stunden. Ich meine, Salgar hatte ein Auge auf mich als Reporter geworfen, während die anderen von mir Filmbesprechungen, Kommentare und Kulturbeiträge erwarteten, da ich stets in meiner Eigenschaft als Erzähler herausgestellt worden war. Seit meinen ersten journalistischen Versuchen an der Küste war es jedoch immer mein Traum gewesen, Reporter zu werden, und ich wusste, dass José Salgar der beste Lehrmeister war, aber er schien mir die Türen zu versperren, vielleicht in der Hoffnung, ich würde sie aufsprengen, um gewaltsam einzudringen. Wir arbeiteten sehr gut zusammen, hatten eine herzliche und schwungvolle Umgangsart, und immer wenn ich ihm einen Beitrag vorlegte, den ich mit Guillermo Cano oder auch Eduardo Zalamea abgesprochen hatte, nahm er ihn ohne Einwände ab, hatte jedoch kein Verständnis für rituelle Übungen. Er machte dann eine Bewegung, als ziehe er unter Anstrengungen den Korken aus einer Flasche und sagte, ernsthafter als er wohl selbst dachte, zu mir: »Dreh doch dem Singschwan den Hals um.« Er war aber niemals aggressiv. Ganz im Gegenteil: Ein herzlicher Mann, in der Lohe geschmiedet, war er Stufe um Stufe durch alle Abteilungen aufgestiegen -angefangen bei der Setzerei, wo er mit vierzehn Kaffee ausgeschenkt hatte, bis hin zum Sessel des Chefredakteurs -, und seine professionelle Autorität wurde in ganz Kolumbien anerkannt. Ich glaube, er konnte mir nicht verzeihen, dass ich mich in einem Land, dem es so sehr an harten Reportern mangelte, mit poetischen Spielereien abgab. Ich hingegen dachte, dass gerade die Reportage am besten über den Alltag Auskunft geben könne. Heute weiß ich, dass unser beider Sturheit der beste Anreiz für mich war, mir den scheuen Traum zu erfüllen, Reporter zu sein. Eine Gelegenheit bot sich am 9. Juni 1954, als ich vormittags um elf Uhr zwanzig von einem Besuch bei einem Freund im Mustergefängnis von Bogotá zurückkam. Eine kriegerisch bewaffnete Truppe des Heeres hielt eine große Ansammlung von Studenten auf der Carrera Séptima in Schach, zweihundert Meter von der Straßenecke entfernt, an der man sechs Jahre zuvor Jorge Eliécer Gaitán ermordet hatte. Es war eine Protestdemonstration, denn am Tag zuvor war ein Student von Einheiten des für den Koreakrieg trainierten

Weitere Kostenlose Bücher