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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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an die dreitausend unbekannten Märtyrer, die von der Staatsgewalt geopfert worden seien.
    Das Massaker an den Bananenarbeitern war eine Steigerung vorangegangener Strafaktionen, doch diesmal wurden die Streikanführer zudem als Kommunisten angeprangert, und vielleicht waren sie das auch. Den berüchtigsten und gesuchtesten, Eduarde Mahecha, lernte ich im Mustergefängnis von Barranquilla etwa zu der Zeit zufällig kennen, als ich mit meiner Mutter das Haus verkaufen fuhr, und es ergab sich ein freundschaftlicher Kontakt, sobald ich mich als Enkel von Nicolás Márquez vorgestellt hatte. Er eröffnete mir, dass der Großvater sich beim Streik 1928 nicht neutral verhalten hatte, sondern als Vermittler aufgetreten war, und er hielt ihn für einen gerechten Mann. Mahecha verhalf mir so zu einer umfassenderen Sicht der Ereignisse und einem objektiveren Bild der sozialen Konflikte. Die einzige wirkliche Diskrepanz zwischen all den unterschiedlichen Erinnerungen bestand in der Anzahl der Toten - aber das wird nicht die einzige Unbekannte in unserer Geschichte bleiben.
    Aus der Vielzahl der umgehenden Versionen erklären sich meine falschen Erinnerungen. Die beständigste davon betrifft mich selbst, ich stehe an der Haustür mit einem preußischen Helm und einer Spielzeugflinte und sehe unter den Mandelbäumen das Bataillon verschwitzter Cachacos defilieren. Einer der kommandierenden Offiziere in Paradeuniform grüßt mich im Vorbeimarschieren:
    »Adios, Hauptmann Gabi.«
    Die Erinnerung ist scharf, aber sie kann unmöglich stimmen. Die Uniform, den Helm und die Flinte hat es gegeben, doch erst zwei Jahre nach dem Streik, als schon keine Truppen mehr in Cataca waren. Aus vielen vergleichbaren Fällen speiste sich zu Hause mein schlechter Ruf, ein intrauterines Gedächtnis und hellsichtige Träume zu haben.
    Dies war der Zustand der Welt, als ich ein Bewusstsein für das Familienleben zu entwickeln begann, und es gelingt mir nicht, dieses auf eine andere Weise zu beschwören: Kummer, Sehnsucht und Ungewissheiten in der Einsamkeit eines riesigen Hauses. Über Jahre hinweg schien sich jene Epoche für mich in einen Albtraum verwandelt zu haben, denn fast täglich wachte ich morgens mit dem gleichen Entsetzen auf wie damals im Zimmer mit den Heiligenfiguren. Noch als Jugendlicher, im eisigen Internat in den Anden, schreckte ich mitten in der Nacht weinend hoch. Ich musste dieses reuelose Alter erreichen, um zu begreifen, dass das Unglück der Großeltern im Haus in Cataca darin bestand, dass sie für immer in ihren Nostalgien befangen blieben, und das umso stärker, je eifriger sie bemüht waren, diese zu bannen.
    Einfacher noch: Sie wohnten in Cataca, lebten aber weiter in der Provinz Padilla, die wir noch immer »Die Provinz« nennen, nur so, als gäbe es keine andere auf der Welt. Vielleicht unwillkürlich hatten sie das Haus in Cataca als regelrechte Replik des Hauses in Barrancas gebaut, von dessen Fenstern aus man über die Straße hinweg den traurigen Friedhof sah, auf dem Medardo Pacheco lag. In Cataca wurden sie geliebt, war man ihnen gefällig, doch ihr Leben blieb sklavisch dem Landstrich ihrer Geburt verpflichtet. Sie verbarrikadierten sich in ihren Vorlieben, ihren Überzeugungen, ihren Vorurteilen und schlössen die Reihen gegen alles, was anders war.
    Ihre nächsten Freunde waren vor allem solche, die aus Der Provinz kamen. Die Alltagssprache der Großeltern hatten ihre Großeltern über Venezuela aus Spanien mitgebracht, sie wurde belebt durch karibische Lokalismen, Afrikanismen der Sklaven und Brocken der Guajira-Sprache, die nach und nach in die unsere eindrangen. Die Großmutter gebrauchte Letztere, wenn ich etwas nicht mitbekommen sollte, wusste aber nicht, dass ich die Guajira-Sprache durch meinen direkten Umgang mit dem Personal besser verstand als sie. Ich erinnere mich an viele Wendungen: atunkeshi - ich bin müde, jamusaitshi taya - ich bin hungrig, ipuwots - die schwangere Frau oder auch arijuna - der Fremdling, ein Wort, das meine Großmutter auf eine ganz bestimmte Weise benutzte, wenn sie einen Spanier, einen Weißen, und nicht zuletzt den Feind meinte. Die Guajiros haben ihrerseits immer eine Art knochenloses Spanisch mit leuchtenden Glanztupfern gesprochen, so wie Chons eigener Dialekt; er zeichnete sich durch eine übertriebene Präzision aus, die meine Großmutter ihr verbot, weil dabei unweigerlich Zweideutiges mitklang: »Die Lippen des Mundes.«
    Der Tag war unvollständig ohne Nachrichten

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