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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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hinfällig, dass mich die Vorahnung überkam, er würde bald sterben, und da tat er mir Leid. Mit der Zeit dachte er jedoch immer länger über seine Schachzüge nach, so dass ich schließlich von ganzem Herzen seinen Tod wünschte.
    In jener Zeit hängte mein Großvater im Esszimmer das Bild des Befreiers Simon Bolívar auf und stellte Kurzen davor. Ich begriff nicht recht, warum Bolívar auf dem Bild nicht mit einem Leichentuch bedeckt war, wie ich es bei Trauerfeiern gesehen hatte, sondern in der Uniform seiner glorreichen Tage auf einem Kanzleischreibtisch lag. Mein Großvater beseitigte meine Zweifel mit einem endgültigen Satz:
    »Er war anders.«
    Daraufhin las er mir mit bebender Stimme, die nicht die seine zu sein schien, ein langes Gedicht vor, das neben dem Bild hing und von dem ich nur die letzten Verse für immer in Erinnerung behielt: Du, Santa Maria, nahmst den Gast freundlich auf, und erfand einen Streifen Meeresstrand, in deinem Schoß zu sterben. Ich meinte dann viele Jahre lang, Bolívar sei tot am Strand gefunden worden. Mein Großvater lehrte mich, dieser Mann sei der Größte der Weltgeschichte, und bat mich, das nie zu vergessen. Verwirrt über den Widerspruch zwischen seinem Ausspruch und einem anderen, den die Großmutter mit gleicher Emphase vorgebracht hatte, fragte ich ihn, ob Bolívar größer sei als Jesus Christus. Er antwortete kopfschüttelnd und nicht mehr ganz so überzeugend wie zuvor:
    »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
    Jetzt weiß ich, dass die Großmutter es war, die ihrem Mann auferlegte, mich auf seinen abendlichen Spaziergängen mitzunehmen, da sie sicher war, diese seien nur ein Vorwand, um seine realen oder eingebildeten Geliebten zu besuchen. Wahrscheinlich habe ich ihm das eine oder andere Mal als Alibi gedient, die Wahrheit ist jedoch, dass er mich nie zu einem nicht vorgesehenen Ort mitgenommen hat. Dennoch habe ich klar ein Bild vor Augen: Ich gehe abends an der Hand von jemand anderem an einem unbekannten Haus vorbei und sehe dort zufällig meinen Großvater im Salon sitzen, als sei er der Herr des Hauses. Ich habe nie begriffen, warum mich damals die Gewissheit durchschauerte, dass ich niemandem davon erzählen durfte. Bis zum heutigen Tage.
    Der Großvater sorgte auch für meinen ersten Kontakt mit der geschriebenen Schrift. Ich war fünf Jahre alt, und er nahm mich eines Nachmittags zu dem Wanderzirkus mit, der in Cataca sein Zelt, groß wie eine Kirche, aufgebaut hatte. Er zeigte mir die Tiere, und ich war am meisten von einem trostlosen, geschundenen Wiederkäuer gefesselt, einem Tier mit erschreckend mütterlichem Ausdruck.
    »Das ist ein Kamel«, erklärte mir mein Großvater.
    Ein Mann, der in der Nähe stand, mischte sich ein:
    »Verzeihung, Oberst, aber das ist ein Dromedar.«
    Heute kann ich mir vorstellen, wie sich der Großvater gefühlt haben muss, weil ihn jemand in Gegenwart seines Enkels verbesserte. Ohne groß nachzudenken, ging er mit einer Frage würdevoll darüber hinweg:
    »Was ist der Unterschied?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte der andere, »aber das hier ist ein Dromedar.«
    Der Großvater war kein gebildeter Mann, gab das auch nicht vor, denn er hatte sich einst aus der öffentlichen Schule in Riohacha davongemacht, um in einem der zahllosen karibischen Bürgerkriege herumzuballern. Er ging dann nie wieder zur Schule, war sich aber sein Lebtag der Lücken bewusst und so unmittelbar wissbegierig, dass er die Mängel reichlich ausglich.
    Am Abend des Zirkusbesuchs kam er niedergeschlagen in sein Büro zurück und schlug mit kindlichem Eifer im Lexikon nach. Danach wussten er und ich für immer den Unterschied zwischen einem Dromedar und einem Kamel. Schließlich legte er mir das ruhmreiche Enteselungswerk in den Schoß und sagte:
    »Dieses Buch weiß nicht nur alles, sondern ist auch das einzige, das sich nie irrt.«
    Es war ein dicker illustrierter Wälzer, und auf dem Buchrücken prangte ein kolossaler Atlant, auf dessen Schultern das Universum ruhte. Ich konnte weder lesen noch schreiben, mir aber vorstellen, wie Recht der Oberst hatte, handelte es sich doch um fast zweitausend große eng bedruckte Seiten mit wunderbaren Zeichnungen. In der Kirche hatte mich die Größe des Messbuchs in Staunen versetzt, aber das Lexikon war noch dicker. Es war, als ob ich mich zum ersten Mal der Welt als Ganzes näherte.
    »Wie viele Wörter hat es wohl?«, fragte ich.
    »Alle«, sagte der Großvater.
    Eigentlich brauchte ich damals das

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