Leben, um davon zu erzählen
geschriebene Wort nicht, weil ich mit Zeichnungen alles ausdrücken konnte, was mich beschäftigte. Als Vierjähriger hatte ich einen Magier gemalt, der seiner Frau den Kopf abschnitt und dann wieder anklebte, wie es Richardine getan hatte, als er im Olympia war. Die Bildfolge begann damit, dass er sie mit einer Säge enthauptete, ging weiter mit der triumphalen Präsentation des blutenden Kopfes und endete damit, wie die Frau mit wieder aufgesetztem Kopf für den Applaus dankte. Die Comicstrips waren bereits erfunden, ich begegnete ihnen jedoch erst später in den bunten Sonntagsbeilagen der Zeitungen. Daraufhin dachte ich mir Geschichten in Bildern ohne Dialog selbst aus. Als der Großvater mir jedoch später das Lexikon anvertraute, machte es mich so neugierig auf die Wörter, dass ich es wie einen Roman las, dem Alphabet nach, obwohl ich kaum etwas davon verstand. Das war mein erster Kontakt mit dem Buch, das für mein Schicksal als Schriftsteller entscheidend sein sollte.
Wenn Kinder die erste Geschichte erzählt bekommen haben, die sie wirklich fesselt, dann ist es meistens schwer, sie dazu zu bringen, eine andere hören zu wollen. Ich glaube, das ist nicht der Fall bei Kindern, die selbst erzählen, und es war auch bei mir nicht so. Ich wollte mehr. Die Gier, mit der ich den Geschichten zuhörte, führte immer dazu, dass ich am Tag darauf noch eine bessere erwartete, besonders bei denen, die mit den Mysterien der biblischen Geschichte zu tun hatten.
Was immer ich auf der Straße erlebte, fand zu Hause eine enorme Resonanz. Die Frauen aus der Küche erzählten es den Fremden, die mit dem Zug kamen - und ihrerseits neuen Erzählstoff mitbrachten -, und alles wurde vom Strom der mündlichen Tradition aufgenommen. Manche Ereignisse erfuhr man zuerst von den Akkordeonspielern, die davon auf den Märkten sangen, Reisende griffen dann die Geschichten auf und schmückten sie aus. Das erschütterndste Ereignis meiner Kindheit kündigte sich eines frühen Sonntagmorgens auf dem Weg zur Kirche in einer seltsamen Bemerkung meiner Großmutter an:
»Der arme Nicolasito wird die Pfingstmesse verpassen.«
Ich freute mich, weil die Sonntagsmesse für mein Alter zu lang war und die Predigten von Pater Angarita, den ich als kleines Kind so sehr geliebt hatte, einschläfernd auf mich wirkten. Aber ich hatte mich zu früh gefreut, denn der Großvater schleifte mich in meinem grünen Tuchanzug, den sie mir zur Messe angezogen hatten und der zwischen den Beinen kniff, zur Werkstatt des Belgiers. Die Wächter erkannten den Großvater schon von weitem und öffneten ihm die Tür mit der rituellen Formel:
»Treten Sie ein, Oberst.«
Da erst erfuhr ich, dass der Belgier nach dem Besuch von Im Westen nichts Neues, Lewis Milestones Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque, gemeinsam mit seinem Hund eine Lösung Goldzyanid eingeatmet hatte. Die Intuition des Volks, die immer die Wahrheit aufspürt, selbst wenn das nicht möglich ist, erkannte und erklärte, der Belgier habe die Erschütterung nicht ausgehalten, als er sah, wie er und seine aufgeriebene Patrouille sich in einem Sumpf der Normandie wälzten.
Das kleine Empfangszimmer lag wegen der geschlossenen Fenster im Halbdunkel, doch das frühe Licht vom Hof erhellte das Schlafzimmer, wo der Bürgermeister mit zwei weiteren Beamten den Großvater erwartete. Dort lag der mit einem Tuch bedeckte Leichnam auf einem Feldbett, die Krücken in Reichweite, wo ihr Besitzer sie gelassen hatte, bevor er sich zum Sterben hinlegte. Neben ihm auf einem Holzschemel war die Schale, in der er das Zyanid verdampft hatte, sowie ein Blatt, auf dem mit großen gepinselten Buchstaben stand: »Beschuldigt keinen, ich bringe mich aus Torheit um.« Die gesetzlichen Formalitäten und die Einzelheiten des Begräbnisses, von meinem Großvater rasch erledigt, dauerten nicht länger als zehn Minuten. Für mich waren es jedoch die erschütterndsten zehn Minuten, an die ich mich in meinem Leben erinnern sollte.
Schon beim Eintreten ließ mich der Geruch in dem Schlafzimmer erschauern. Erst viel später erfuhr ich, es war der Bittermandelgeruch des Zyanids, das der Belgier eingeatmet hatte, um zu sterben. Aber weder dieser noch ein anderer Eindruck sollte so intensiv und dauerhaft sein wie der Anblick des Leichnams, als der Bürgermeister das Tuch wegzog, um ihn meinem Großvater zu zeigen. Der Tote war nackt, starr und verkrümmt, die raue Haut von gelben Haaren bedeckt, und die Augen, friedliche Wasser,
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