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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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sahen uns an, als seien sie lebendig. Dieses Entsetzen, von jenseits des Todes angesehen zu werden, ließ mich über Jahre jedes Mal erschauern, wenn ich an den kreuzlosen Gräbern der Selbstmörder vorbeiging, die auf Anordnung der Kirche außerhalb des Friedhofs bestattet wurden. Woran ich mich im Angesicht der Leiche jedoch von Grauen erfüllt am deutlichsten erinnerte, waren die langweiligen Abende in diesem Haus. Vielleicht sagte ich deshalb, als wir das Haus verließen, zu meinem Großvater:
    »Der Belgier wird nie wieder Schach spielen.«
    Es war ein nahe liegender Gedanke, doch mein Großvater erzählte der Familie davon wie von einem genialen Einfall. Die Frauen verbreiteten derart begeistert meinen Ausspruch, dass ich eine Zeit lang den Besuchern auswich, da ich fürchtete, die Geschichte würde vor mir erzählt werden oder ich dazu gezwungen, sie zu wiederholen. Zudem enthüllte mir das alles eine Eigenschaft der Erwachsenen, die mir als Schriftsteller sehr nützlich sein sollte: Jeder fügte von sich aus neue Details hinzu, und das ging so weit, dass die unterschiedlichen Versionen sich schließlich von der ursprünglichen völlig lösten. Keiner kann sich vorstellen, welches Mitgefühl ich seitdem mit den armen Kindern habe, die von ihren Eltern zu Genies erklärt werden und vor Gästen singen, Vögel imitieren oder sogar zur reinen Unterhaltung lügen müssen. Allerdings ist mir heute klar, dass jener schlichte Satz mein erster literarischer Erfolg war.
    So sah mein Leben 1932 aus, äs die Bekanntmachung kam, dass peruanische Truppen unter der Militärregierung von General Luis Miguel Sánchez Cerro im äußersten Süden Kolumbiens die ungesicherte Siedlung Leticia am Ufer des Amazonas besetzt harten. Die Nachricht hallte im ganzen Land wider. Die Regierung ordnete die nationale Mobilmachung an sowie eine öffentliche Kollekte, bei der von Haus zu Haus wertvoller Familienschmuck eingesammelt werden sollte. Der hinterhältige Angriff der peruanischen Truppen heizte den Patriotismus an, und das Volk reagierte auf noch nie da gewesene Weise. Die Eintreiber kamen gar nicht nach, überall die freiwilligen Spenden einzusammeln, darunter vor allem Eheringe, die sowohl wegen ihres realen wie ihres symbolischen Werts hoch geschätzt wurden.
    Für mich aber war es, gerade wegen der herrschenden Unordnung, eine der glücklichsten Zeiten. Die sterile Strenge des Schulalltags wurde durchbrochen und auf der Straße und in den Häusern durch eine allgemeine Kreativität ersetzt. Ein Bürgerbataillon aus den Besten der Jugend, egal welcher Klasse oder Hautfarbe, wurde aufgestellt, weibliche Rot-Kreuz-Brigaden gegründet, schnell wurden kriegerische Hymnen gegen den niederträchtigen Aggressor erfunden, und ein einmütiger Schrei hallte durch das ganze Vaterland: »Es lebe Kolumbien, nieder mit Peru!«
    Ich habe nie erfahren, wie dieses Heldenepos endete, da sich die Gemüter nach einiger Zeit beruhigten, ohne dass es ausreichende Erklärungen dafür gab. Der Frieden konsolidierte sich, als General Sánchez Cerro von einem Gegner seines blutigen Regimes ermordet wurde, und mit dem Schrei »Es lebe Kolumbien, nieder mit Peru!« feierte man nur noch routinemäßig die schulischen Fußballsiege. Doch meine Eltern, die ihre Eheringe für den Krieg gespendet hatten, erholten sich nie von ihrer Gutgläubigkeit.
    Soweit ich mich erinnere, zeigte sich zu dieser Zeit meine Freude an der Musik in der Faszination für die Lieder der fahrenden Sänger und Akkordeonspieler. Einige davon konnte ich auswendig, da auch die Frauen in der Küche sie hinter dem Rücken meiner Großmutter sangen, weil diese sie für Lieder des Gesindels hielt. Das dringende Bedürfnis zu singen, um mich lebendig zu fühlen, weckten in mir jedoch die Tangos von Carlos Gardel, die fast jedermann infizierten. Ich ließ mich mit Filzhut und Seidenschal wie Gardel ausstaffieren, und man musste mich nicht lange bitten, damit ich aus voller Brust einen Tango schmetterte. Bis zu dem bösen Morgen, als Tante Mama mich mit der Nachricht weckte, Gardel sei beim Zusammenstoß zweier Flugzeuge in Medellín gestorben. Monate zuvor hatte ich auf einem Wohltätigkeitsfest Cuesta abajo gesungen, begleitet von den Schwestern Echeverri, waschechten Bogotánerinnen, die Lehrer ausbildeten und die Seele jedes Wohltätigkeitbazars und jedes patriotischen Gedenktages waren, der in Cataca begangen wurde. Und ich sang dabei so charaktervoll, dass meine Mutter nicht zu

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