Leben, um davon zu erzählen
dem Begleitbrief einen Witz nach unserer Art unterbringen zu können: »Endlich schuldet England uns Kolumbianern einen Gefallen.« Die Herausgeber antworteten ihm mit einem freundlichen Brief, in dem sie ihren Fehler einräumten und ihn um weitere Mitarbeit baten. Das machte er dann auch mehrere Jahre lang und stieß nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Wörterbüchern unterschiedlicher Sprachen auf Irrtümer. Als die Verbindung einschlief, hatte er schon das einsame Laster angenommen, spanische, englische, französische und lateinische Wörterbücher zu korrigieren, und immer wenn er in irgendeinem Vorzimmer saß, auf den Bus wartete oder, wie so oft in seinem Leben, Schlange stehen musste, unterhielt er sich mit der kleinteiligen Jagd nach Schnitzern im Dickicht der Sprachen.
Um zwölf Uhr mittags war die Hitze unerträglich. Der Rauch unserer Zigaretten hatte das karge Licht der zwei einzigen Fenster vernebelt, aber keiner von uns machte sich die Mühe, das Büro zu lüften, vielleicht wegen der sekundären Sucht, den gleichen Rauch immer weiter zu rauchen, bis man starb. Mit der Hitze war das anders. Ich habe das angeborene Glück, sie bis zu dreißig Grad im Schatten ignorieren zu können. Alfonso aber legte, ohne die Arbeit zu unterbrechen, Stück für Stück die Kleidung ab, wenn die Hitze drückender wurde: die Krawatte, das Hemd, das Unterhemd. Mit dem weiteren Vorteil, dass die Wäsche, während er selbst sich in Schweiß auflöste, trocken blieb und er sie, wenn die Sonne sank, wieder anziehen konnte, so frisch und gebügelt wie beim Frühstück. Das muss das Geheimnis gewesen sein, weshalb er immer überall in weißem Leinen erscheinen konnte, mit seinem schiefen Krawattenknoten und seinem harten Indiohaar, das in der Mitte des Schädels von einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie geteilt wurde. So sah er auch wieder um ein Uhr mittags aus, als er wie nach einem erholsamen Schlaf aus der Toilette kam. m Vorbeigehen fragte er:
»Gehen wir essen?«
»Kein Hunger, Meister«, sagte ich.
Im Code der Gruppe war das eine eindeutige Erwiderung: Sagte ich Ja, bedeutete das, ich war, vielleicht nach zwei Tagen Brot und Wasser, in einer Notlage, und in dem Fall wäre ich ohne weiteren Kommentar mitgegangen, wobei dann klar war, dass er mich irgendwie einlud. Die Antwort - kein Hunger - konnte alles Mögliche bedeuten, aber es war meine Art, ihm mitzuteilen, dass das Mittagessen kein Problem für mich war. Wir verabredeten uns für den Abend, wie immer in der Librería Mundo.
Am frühen Nachmittag erschien ein junger Mann, der wie ein Filmschauspieler aussah. Sehr blond, wettergegerbte Haut, rätselhaft blau die Augen und eine warme Stimme wie ein Harmonium. Während wir über die bevorstehende Erscheinung der Zeitschrift sprachen, zeichnete er mit sechs meisterhaften Strichen die Silhouette eines wilden Stieres auf die Schreibtischunterlage und unterschrieb mit einer Botschaft an Fuenmayor. Sodann warf er den Bleistift auf den Tisch und verabschiedete sich türenschlagend. Ich war derart ins Schreiben versunken, dass ich mir nicht einmal den Namen auf der Zeichnung ansah. Also schrieb ich den restlichen Tag über, ohne zu trinken oder zu essen, und als das Abendlicht geschwunden war, tastete ich mich mit den ersten Entwürfen des neuen Romans hinaus, glücklich und gewiss, endlich einen neuen Ansatz für etwas gefunden zu haben, an dem ich seit fast einem Jahr hoffnungslos schrieb.
Erst abends erfuhr ich, dass der nachmittägliche Besucher Alejandro Obregon gewesen war, gerade zurück von einer seiner vielen Europareisen. Er war damals nicht nur einer der großen kolumbianischen Maler, sondern auch ein von seinen Freunden überaus geliebter Mann, und er hatte seine Rückkehr vorverlegt, um beim Erscheinen von Cronica dabei zu sein. Mitten im Barrio Abajo in der Gasse La Luz traf ich ihn mit seinen engsten Freunden in einer namenlosen Kneipe, die Alfonso Fuenmayor nach dem Titel eines neuen Buches von Graham Greene getauft hatte: El tercer hombre - Der dritte Mann. Wenn Obregon heimkehrte, war das stets ein historisches Ereignis, und der Höhepunkt jener Nacht war die Schau einer dressierten Grille, die wie ein menschliches Wesen den Befehlen ihres Herrn gehorchte. Sie stellte sich auf zwei Beine, breitete die Flügel aus, sang in rhythmischen Pfeiftönen und dankte mit förmlichen Verbeugungen für den Applaus. Am Ende fasste Obregon vor den Augen des beifalltrunkenen Dompteurs die Grille mit den
Weitere Kostenlose Bücher