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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Schriftstellern und Künstlern auf der Durchreise waren denkwürdig. Eine weitere Freundin war die Malerin Cecilia Porras, die ab und zu und dann nur kurz aus Cartagena herüberkam und uns bei unseren nächtlichen Touren begleitete, da es ihr völlig egal war, dass Frauen in den Cafés der Trunkenbolde und den Häusern des Verderbens nicht gern gesehen waren.
    Wir von der Gruppe trafen uns zweimal täglich in der Librería Mundo, die sich allmählich zu einem literarischen Zentrum entwickelte. Sie war eine Oase des Friedens im Getöse der Galle San Blas, der heiß brodelnden Hauptgeschäftsstraße, über die sich die Innenstadt um sechs Uhr abends leerte. Alfonso und ich schrieben wie artige Schüler bis zum Einbruch der Nacht in unserem Büro neben dem Redaktionssaal von El Heraldo, er seine gelehrten Kommentare und ich meine haarsträubenden Kolumnen. Oft tauschten wir von einer Maschine zur anderen Ideen aus, borgten uns Adjektive, fragten hin und her nach Daten, so dass manchmal kaum mehr zu entscheiden war, welchen Absatz wer geschrieben hatte.
    Unser Tagesablauf war fast immer vorhersehbar, außer am Freitagabend, wenn wir unseren Eingebungen ausgeliefert waren und zuweilen bis zum Frühstück am Montag durchmachten. Wenn es uns packte, begaben wir uns zu fünft, ungebremst und maßlos, auf eine literarische Pilgerreise. Sie begann im Tercer Hombre mit den Handwerkern des Viertels, den Mechanikern einer nahen Autowerkstatt und mehr oder weniger aus der Bahn geratenen Beamten. Der seltsamste Gast von allen war ein Einbrecher, der kurz vor Mitternacht in Berufskleidung erschien: Balletthosen, Tennisschuhe, Basketballmütze, dazu ein Köfferchen mit leichtem Werkzeug. Einem, der ihn beim Stehlen in seinem Haus erwischte, gelang es, ein Foto zu machen, das er zur Identifikation an die Presse gab. Der einzige Erfolg dieser Aktion waren ein paar Leserbriefe, die sich darüber empörten, dass den armen Dieben so böse mitgespielt werde.
    Der Dieb bekannte sich zu seiner literarischen Berufung, ließ sich bei den Diskussionen über Kunst und Literatur kein Wort entgehen, und wir wussten, dass er der verschämte Autor von Liebesgedichten war, die er vor den Gästen deklamierte, wenn wir nicht da waren. Nach Mitternacht machte er sich zum Stehlen in die besseren Viertel auf, als sei er dafür angestellt, und drei oder vier Stunden später brachte er uns als Geschenk eine Kleinigkeit mit, die er von der großen Beute abgezweigt hatte. »Für die Mädchen«, sagte er, ohne zu fragen, ob wir denn welche hätten. War ihm ein Buch aufgefallen, schenkte er es uns, und wenn es die Mühe wert war, stifteten wir es der Bezirksbibliothek, die Meira Delmar leitete.
    Mit diesen Bildungsausflügen hatten wir uns einen fragwürdigen Ruf bei den Betschwestern eingehandelt, die uns nach der Frühmesse um fünf Uhr morgens begegneten und die Straßenseite wechselten, um nicht an übernächtigten Saufbrüdern vorbeigehen zu müssen. Dabei konnte es keine ergiebigeren und ehrbareren Sausen geben. Mir war das gleich klar gewesen, und ich machte mit, unterhielt mich im Bordell schreiend über das Werk von John Dos Passos oder die verschenkten Tore von Deportivo Junior. Das ging so weit, dass eine der anmutigen Hetären vom Gato Negro, die, verärgert von einer Nacht der unentgeltlichen Dispute, uns im Vorbeigehen zurief:
    »Wenn ihr genauso viel rammeln wie schreien würdet, könnten wir in Gold baden!«
    Oft gingen wir zum Sonnenaufgang in ein namenloses Bordell des Barrio Chino, wo jahrelang Orlando Figuera, Figurita, wohnte, während er ein epochales Wandgemälde fertig stellte. Ich kann mich an keinen erinnern, der so viel Unsinn redete wie er, mit seinem irren Blick, seinem Ziegenbart und der Güte eines Waisenkindes. Schon in der Grundschule hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Kubaner zu sein, und er wurde es schließlich, besser und echter, als wenn er wirklich einer gewesen wäre. Er sprach, aß, malte, kleidete sich, verliebte sich, tanzte und lebte sein Leben wie ein Kubaner und starb als Kubaner, ohne je in Kuba gewesen zu sein.
    Er schlief nicht. Wenn wir ihn in aller Früh besuchen gingen, sprang er, bekleckster als die Wand, von dem Gerüst und fluchte im Kater des Marihuanarauschs wie ein kubanischer Kämpfer gegen die spanische Krone. Alfonso und ich brachten ihm zum Illustrieren Artikel und Kurzgeschichten, die wir ihm laut erzählen mussten, weil er nicht die Geduld hatte, sie lesend zu verstehen. Die Zeichnungen

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