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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Alfonso gründete auf diffizileren literarischen und politischen Fragen. Bei Álvaro hingegen hatte ich immer den Eindruck, dass er befangen war, wenn er Don Ramón allein am Tisch vorfand, und die anderen brauchte, um in Fahrt zu kommen. Der einzige Mensch, dem die Wahl des Platzes am Tisch freistand, war José Felix. Spätabends ging Don Ramón nicht ins Japy, sondern traf sich im nahen Café Roma mit seinen Freunden unter den spanischen Exilanten.
    Ich kam als Letzter an Don Ramóns Tisch und setzte mich vom ersten Tag an ohne selbst erworbenes Recht auf den Stuhl von Álvaro Cepeda, weil dieser in New York war. Don Ramón empfing mich als einen weiteren Schüler, da er meine Geschichten in El Espectador gelesen hatte. Dennoch hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich einmal so vertraut mit ihm sein würde, ihn um Geld für die Fahrt mit meiner Mutter nach Aracataca anzupumpen. Wenig später hatten wir durch einen erstaunlichen Zufall das erste und einzige Gespräch unter vier Augen, weil ich früher als die anderen ins Japy gekommen war, um ihm ohne Zeugen die sechs geliehenen Pesos zurückzugeben.
    »Hallo, Genius«, begrüßte er mich wie immer. Aber etwas in meinem Gesicht beunruhigte ihn: »Sind Sie krank?«
    »Das glaube ich nicht, Señor«, sagte ich nervös. »Warum?«
    »Sie sehen abgezehrt aus«, sagte er »aber geben Sie nichts drauf, heutzutage sind wir alle etwas fotuts del cul.«
    Er steckte die sechs Pesos mit einer widerstrebenden Gebärde in die Brieftasche, als stünde ihm das Geld nicht zu.
    »Ich nehme es an«, erklärte er mir errötend, »als Erinnerung an einen sehr armen jungen Mann, der seine Schulden bezahlte, ohne dass man sie einforderte.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und versank mitten im lärmenden Café in ein bleiernes Schweigen.
    Von dem Glück dieser Begegnung hatte ich nicht einmal geträumt. Mein Eindruck war, dass in den Gruppengesprächen jeder von uns sein Scherflein zum allgemeinen Durcheinander beitrug und die Gaben und die Schwächen jedes Einzelnen sich mit denen der anderen vermischten, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass ich ganz allein mit einem Mann, der seit Jahren in einer Enzyklopädie lebte, über die Kunst und den Ruhm sprechen könnte. Wenn ich spätnachts in der Einsamkeit meines Zimmers las, stellte ich mir die erregenden Gespräche vor, die ich gerne mit ihm über meine literarischen Zweifel geführt hätte, doch im Tageslicht lösten sich diese Phantasien spurlos auf. Meine Schüchternheit nahm zu, wenn Alfonso mit einer seiner unerhörten Ideen herausplatzte, Germán ein eiliges Urteil des Lehrers missbilligte oder Álvaro sich über ein Projekt heiser schrie, das uns um den Verstand brachte.
    An jenem Tag im Japy ergriff zum Glück Don Ramon die Initiative und fragte mich über meine Lektüre aus. Damals hatte ich bereits alles gelesen, was ich von der lost generation auf Spanisch aufgetrieben hatte, besonders aufmerksam Faulkner, dem ich mit der blutigen Behutsamkeit eines Rasiermessers nachspürte, weil ich die seltsame Angst hatte, er könne sich auf die Dauer nur als geschickter Rhetoriker erweisen. Nach dieser Äußerung durchfuhr mich die Scham, dass sie wie eine Provokation gewirkt haben könnte, und ich versuchte zu differenzieren, Don Ramón aber ließ mir keine Zeit dazu.
    »Keine Sorge, Gabito«, erwiderte er gelassen. »Wäre Faulkner in Barranquilla, er säße an diesem Tisch.«
    Dagegen fand er mein Interesse für Ramon Gómez de la Serna, den ich sogar neben unanfechtbaren Romanciers in »Lajirafa« zitierte, auffällig. Ich stellte klar, dass ich ihn nicht so sehr wegen seiner Romane schätzte - Das Rosenschloss hatte mir allerdings sehr gefallen -, dass mich vielmehr die Kühnheit seines Geistes und seine verbale Intelligenz interessierten, gewissermaßen als rhythmische Gymnastik, um schreiben zu lernen. Don Ramon unterbrach mich mit seinem sarkastischen Lächeln:
    »Die Gefahr für Sie besteht darin, dass Sie, ohne es zu merken, auch lernen, schlecht zu schreiben.«
    Bevor er das Thema beendete, erkannte er jedoch an, dass Gómez de la Serna bei aller phosphoreszierenden Regellosigkeit doch ein guter Poet sei. So waren seine Erwiderungen, unmittelbar und weise, und ich hatte kaum die Nerven, das alles aufzunehmen, verwirrt von der Furcht, jemand könne bei dieser einmaligen Gelegenheit stören. Doch er wusste damit umzugehen. Der Kellner, der ihn gewohnheitsgemäß bediente, brachte ihm um halb zwölf

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