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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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nachmittags, dann klopfte ich noch einmal, um nach der Antwort zu fragen. Dieselbe Frau öffnete, erkannte mich überrascht und bat mich, einen Augenblick zu warten. Die Antwort lautete, ich solle am nächsten Dienstag zur gleichen Uhrzeit wieder kommen. Das tat ich dann auch, erhielt aber nur die Auskunft, ich bekäme erst nächste Woche eine Antwort. Ich musste noch dreimal dort erscheinen, erhielt immer die gleiche Auskunft, und erst anderthalb Monate später ließ mir eine andere Frau, die schroffer als die vorherige wirkte, vom Herrn ausrichten, dies sei kein Wohltätigkeitsverein.
    Ich lief durch die glühenden Straßen und versuchte, den Mut aufzubringen, meiner Mutter eine Antwort zu geben, die ihre Illusionen nicht zerstörte. Es war schon Nacht, als ich mit wehem Herzen vor sie trat und ihr mitteilte, der gütige Philanthrop sei bereits vor einigen Monaten gestorben. Am meisten schmerzte mich, dass meine Mutter einen Rosenkranz für den ewigen Frieden seiner Seele betete.
    Vier oder fünf Jahre später hörten wir im Radio die Nachricht, der Philanthrop sei am Vortag gestorben, und ich wartete wie versteinert auf die Reaktion meiner Mutter. Ich werde nie begreifen, wie es kam, dass sie aufmerksam und bewegt zuhörte und aus tiefster Seele seufzte: »Gott beschütze ihn in seinem heiligen Reich.« Wir freundeten uns mit der Familie Mosquera an, sie wohnte nur eine Straße weiter und gab ein Vermögen für Comic-Hefte aus, die sich in einem Schuppen im Hof bis zur Decke stapelten. Wir waren die einzigen Privilegierten, die dort ganze Tage lang Dick Tracy und Superman lesen durften. Eine glückliche Fügung war auch die Bekanntschaft mit einem Lehrling, der für das nahe gelegene Kino Las Quintas Plakate malte. Ich half ihm dabei, einfach weil es mir Spaß machte, Buchstaben zu pinseln, und er schmuggelte uns zwei- oder dreimal die Woche gratis in die guten Filme voller Schüsse und Schlägereien. Der einzige Luxus, der uns abging, war ein Radioapparat, um jederzeit auf Knopfdruck Musik hören zu können. Es ist heute schwer vorstellbar, wie selten es Rundfunkgeräte in den Häusern der Armen gab. Luis Enrique und ich pflegten uns vor dem Krämerladen an der Ecke auf eine Bank zu setzen, die man zum Verweilen für die Kundschaft aufgestellt hatte, und hörten ganze Nachmittage lang die Sendungen mit populärer Musik, und das waren fast alle. Wir kannten schließlich das Repertoire von Miguelito Valdés mit dem Orchester Casino de la Playa auswendig, das von Daniel Santos mit der Sonora Matancera sowie die Boleros von Agustín Lara, gesungen von Tona la Negra. Und als uns zweimal wegen ausstehender Zahlungen der Strom abgestellt worden war, bestritten wir die Abendunterhaltung damit, der Mutter und den Geschwistern die Lieder beizubringen. Besonderen Spaß machte das mit Ligia und Gustavo, die sie, ohne sie zu verstehen, wie die Papageien nachsangen, und wir genossen den lyrischen Unsinn, lachten uns darüber tot. Alle ohne Ausnahme hatten wir von Vater und Mutter ein besonderes Gedächtnis für Musik und ein gutes Gehör geerbt, so dass wir ein Lied beim zweiten Mal nachsingen konnten. Das galt vor allem für Luis Enrique, der ein geborener Musiker war und sich aus eigenem Antrieb auf Gitarrensoli bei den Serenaden für verbotene Lieben spezialisierte. Wir entdeckten bald, dass alle Kinder aus den Nachbarhäusern ohne Radio ihrerseits die Lieder von meinen Geschwistern und insbesondere von meiner Mutter lernten, die schließlich zu einer weiteren Schwester in diesem Haus der Kinder wurde.
    Meine Lieblingssendung war »Von allem etwas« des Komponisten und Sängers Maestro Angel Maria Camacho y Cano, der die Hörer von ein Uhr mittags an mit einem einfallsreichen Unterhaltungsprogramm fesselte, besonders mit seiner Stunde für Aficionados unter fünfzehn. Es genügte, sich in den Büros von La Voz de la Patria - Die Stimme des Vaterlandes - einzuschreiben und eine halbe Stunde vor Sendebeginn dort zu sein. Der Maestro selbst saß am Klavier, und seinem Assistenten oblag es, mit dem Schlag einer Kirchenglocke den Gesang der jungen Laien zu unterbrechen, wenn sich nur der kleinste Fehler eingeschlichen hatte - ein unanfechtbares Urteil. Der Preis für das Lied, das am schönsten gesungen worden war, betrug mehr als das, wovon wir träumen konnten - fünf Pesos -, aber meine Mutter sprach sich eindeutig aus, wichtiger als das Geld sei der Ruhm, in einer so bedeutenden Sendung gut gesungen zu haben.
    Bis dahin

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