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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Strecke blieb. Wir haben nie den Grund für seine Reisen verstanden. Es konnte vorkommen, dass wir plötzlich an einem Samstag gegen Mitternacht aufgeweckt wurden, um zur örtlichen Vertretung des Erdölcamps von Catatumbo zu eilen, wo uns ein Funkruf meines Vaters erreichen sollte. Ich werde nie vergessen, wie meine Mutter während eines Gesprächs voll technischer Störungen in Tränen aufgelöst war.
    »Ach, Gabriel«, sagte sie, »schau doch, wie du mich mit dieser Kinderschar allein gelassen hast. Oft haben wir nicht einmal etwas zu essen gehabt.«
    Er antwortete mit der schlechten Nachricht, seine Leber sei geschwollen. Das kam häufig vor, doch meine Mutter nahm es nicht besonders ernst, weil er das einmal als Ausrede bei einem Seitensprung benutzt hatte.
    »Das passiert immer, wenn du dich schlecht benimmst«, scherzte sie.
    Sie redete und schaute dabei das Mikrophon an, als ob Papa dort stünde, und als sie ihm am Ende einen KUSSschicken wollte, kam sie ganz durcheinander und küsste das Mikrophon. Sie fand das selbst so komisch, dass sie die Geschichte nie zu Ende erzählen konnte, weil ihr vor Lachen die Tränen kamen. An jenem Tag wurde sie jedoch nachdenklich und sagte schließlich bei Tisch, als spreche sie zu niemandem:
    »Da war etwas Seltsames in Gabriels Stimme.«
    Wir erklärten ihr, dass das Funktelefon nicht nur die Stimmen verzerrt, sondern damit auch die Persönlichkeit verändert. Am nächsten Abend sagte sie im Halbschlaf: »Die Stimme hörte sich jedenfalls so an, als sei er viel dünner geworden.« Sie hatte die scharf geschnittene Nase ihrer schlechten Tage und fragte sich seufzend, wie es wohl in diesen gott- und gesetzlosen Dörfern zugehe, in denen sich ihr närrischer Mann herumtrieb. Was sie insgeheim beschäftigte, wurde bei einem zweiten Funkgespräch noch deutlicher, als sie meinem Vater das Versprechen abnahm, sofort nach Hause zu kommen, wenn er in den nächsten zwei Wochen nichts erreicht hätte. Vor Ablauf der Frist erreichte uns jedoch ein dramatisches Telegramm aus Altos del Rosario, das nur ein Wort enthielt: »Unentschlossen.« Meine Mutter sah in der Botschaft eine Bestätigung ihrer hellsichtigsten Ahnungen und diktierte ihr endgültiges Verdikt: »Wenn du bis Montag nicht hier bist, komme ich mit der ganzen Meute.«
    Das Allheilmittel. Mein Vater kannte die Kraft ihrer Drohungen und war vor Ablauf der Woche zurück in Barranquilla. Wir waren erschüttert, als er auftauchte, er war nachlässig gekleidet, unrasiert, und seine Haut schimmerte grünlich, so dass meine Mutter glaubte, er sei krank. Aber das war nur der erste Eindruck, denn nach zwei Tagen erwog er schon wieder seinen Jugendplan, eine vielseitige Apotheke in der Ortschaft Sucre aufzumachen, einem idyllischen und wohlhabenden Flecken, eine Tag- und Nachtreise von Barranquilla entfernt. Er hatte in seinen jungen Jahren dort als Telegrafist gearbeitet, und das Herz wurde ihm schwer, wenn er der Fahrten durch die Kanäle im Abendrot, der vergoldeten Lagunen und durchtanzten Nächte gedachte. Er hatte sich zu einer früheren Zeit darauf versteift, dort eine Lizenz zu bekommen, hatte aber weniger Glück als bei anderen, noch beliebteren Orten, wie etwa Aracataca, gehabt. Etwa fünf Jahre später, bei der dritten Bananenkrise, dachte er erneut daran, Sucre war jedoch inzwischen in der Hand der Grossisten aus Magangué. Einen Monat vor dem Ultimatum seiner Frau hatte er dann zufällig einen von ihnen getroffen, der ihm nicht nur ein völlig anderes Bild entwarf, sondern ihm auch einen guten Kredit für Sucre anbot. Mein Vater lehnte ab. Er glaubte sich nah daran, den Goldtraum von Altos del Rosario zu verwirklichen, als ihn der Urteilsspruch seiner Frau ereilte, woraufhin er den Grossisten aus Magangué ausfindig machte, der noch in den Flussdörfern unterwegs war, und den Vertrag mit ihm abschloss.
    Nach zwei Wochen der Berechnungen und Abmachungen mit befreundeten Grossisten machte sich mein Vater, äußerlich und innerlich wiederhergestellt, erneut auf die Reise, und sein Eindruck von Sucre war so stark, dass er ihn im ersten Brief niederschrieb: »Die Wirklichkeit ist besser als die schönen Erinnerungen.« Er mietete ein Haus mit Balkon an der großen Plaza und gewann von dort aus ehemalige Freunde wieder, die ihn mit offenen Türen empfingen. Die Familie sollte so viel wie möglich verkaufen, den Rest, also wenig, einpacken und auf einem der Dampfer, die den Magdalena regelmäßig berühren, mitbringen. Mit

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