Leben um zu lieben (Junge Liebe) (German Edition)
Mal warten lassen.
Kevin: Lass uns bitte in ein Separée gehen!
Er hatte recht. Es war schwierig, sich in einem überfüllten Chatraum vernünftig zu unterhalten. Ständig schoben sich fremde Kurznachrichten oder Worte zwischen den eigentlichen Dialog. Ich wartete einen Augenblick, bis Kevin mich in einen getrennten Chatraum einlud und ich diesen ohne weitere Zweifel betrat.
Kevin: Das gestern war wirklich keine Absicht gewesen.
Ich merkte, dass es ihmleid tat und dass er sich fühlte, als ob er mir eine Rechenschaft schuldig sei. Noch am gestrigen Abend bis zum heutigen Morgen hatte ich genau dieses Gefühl bei ihm bezwecken wollen. Doch kaum unterhielt ich mich schriftlich mit ihm, war die Wut vergessen. Ich spürte keine Enttäuschung mehr und war froh darüber, dass der Unbekannte sich um mich bemühte.
Sokrates: Ich hatte lange gewartet. Vielleicht hatte das Ganze ja auch etwas Gutes. So bin ich zumindest nach all der Zeit mal wieder aus meinen vier Wänden gekommen.
Kevin: Deine E-Mail war ziemlich traurig. Ich weiß ja nicht, was dir passiert ist oder was du durchmachen musstest, aber ich würde dir gern helfen. Jetzt wirst du vielleicht denken, dass dir so lange niemand geholfen hat und warum ausgerechnet ich, ein Fremder, dir helfen sollte. Ich selbst habe auch eine Menge durchmachen müssen.
Sokrates: Irgendwie sprichst du mir aus der Seele. Du schreibst genau das, was ich denke und fühle.
Kevin: Dass ich nicht gekommen bin, tut mir wirklich leid. Hätte ich gewusst, wie viel dir das bedeutet, wäre ich sicher gekommen.
Sokrates: Ist schon okay …
Kevin war nett und bemühte sich sichtlich, mich verstehen zu wollen. In der Konversation fühlte ich mich vollkommen wohl.
Kevin: Vielleicht möchtest du ja nach der langen Zeit mit mir über deine Probleme reden ... schreiben?
Ich musste lächeln.
Sokrates: Eigentlich habe ich dir in der letzten Mail das Wichtigste geschrieben. Über die anderen Sachen möchte ich nicht sprechen und schon gar nicht mit jemandem, den ich nicht kenne. Was hast du denn durchgemacht?
Kevin: Eine ganze Menge.
Sokrates: Erzählst du’s mir?
Kevin: Ich kann dir etwas erzählen, habe aber nach alldem zu große Angst, dich zu verschrecken.
Sokrates: Ich bleibe - egal, was es ist.
Kevin hatte mich neugierig gemacht. Meine Probleme waren in jenem Moment nichtig und ich spürte, dass ich wieder Interesse an anderen Charakteren hatte. Zu einem Teil machte es mich traurig, dass ich nach dem Unfall verlernt hatte, mit Menschen umzugehen. Zum anderen Teil machte es mich stolz, dass ich jetzt diesen Schritt wagte.
Kevin: Okay. Das Schwierigste in meinem Leben war und ist, dass ich nicht wirklich normal bin. Eigentlich bin ich schon normal, aber in den Augen der anderen, die nur die eine Seite für normal halten, bin ich es eben nicht.
Sokrates: Was meinst du?
Kevin: Meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten und vor allem mir selbst klarzumachen, dass ich nicht auf Frauen stehe.
Meine Finger entfernten sich von der Tastatur. Ich konnte nicht schlucken und wollte am liebsten den Chatraum verlassen. War das etwa der Grund gewesen, warum Kevin mir anfangs nicht mehr über sich erzählt hatte? War das der Grund gewesen, dass er sich so um mich bemühte?
Kevin: Ich habe dich wohl doch verschreckt?!
Sokrates: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
Kevin: Du brauchst nichts dazu zu sagen. Du kannst den Chatraum auch gern verlassen, wenn dir das unangenehm ist. Ich kann dich vielleicht damit beruhigen, dass ich völlig normal aussehe und vollkommen gewöhnliche Interessen habe. Vielleicht kann ich dich aber auch damit beruhigen, dass ich mit einem guten Freund und meiner Hündin zusammen in einer WG wohne. Von diesem gewissen Freund will ich seit Jahren etwas. All das hat also niemals eine Anmache sein sollen.
Sokrates: Das beruhigt mich nicht wirklich.
Kevin: Sieh dir deine Reaktion an und du kannst vielleicht annährend verstehen, was ich vorhin damit meinte, dass ich mein Leben lang Probleme damit hatte und haben werde.
Sokrates: Das ist schon ziemlich erschreckend.
Kevin: Was genau?
Sokrates: Dass ich seit Wochen in meinen vier Wänden hocke, mich zurückziehe, nicht mehr spreche und den Kontakt zu allen abgebrochen habe.
Kevin: Ja und?
Sokrates: Dann finde ich meinen ersten Kontakt im Internet in einem billigen Chatraum und dieser Jemand ist auch noch schwul.
Kevin: Klingt, als sei das eine Krankheit.
Sokrates: Vielleicht muss ich mich daran
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