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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Verbindungsoffizier. »Du gehst zu einem Kommandeur, der über dem deinen steht. Was der befiehlt, wirst du auch tun!«
    Auf dem Weg erzählte der Junge dem Verbindungsoffizier, dass sie die dritte Woche im Haus »sechs Strich eins« säßen und sich eine Zeitlang von Kartoffeln, die im Keller lagerten, ernährt hätten; das Wasser nähmen sie aus dem Dampfheizungskessel, und den Deutschen hätten sie die Hölle so heiß gemacht, dass die einen Parlamentär geschickt und angeboten hätten, die Eingeschlossenen in die Fabrik durchzulassen, doch natürlich habe sein Kommandeur (der Junge nannte ihn uprawdom, Hausverwalter) als Antwort befohlen, aus allen Geschützen zu feuern. Als sie zur Wolga gelangten, legte sich der Junge auf die Erde und trank Wasser; als er sich satt getrunken hatte, streifte er die Tropfen behutsam von seiner wattierten Jacke in die hohle Hand und leckte sie auf, wie ein Hungernder Brotkrumen aufleckt. Er sagte, dass das Wasser im Dampfheizungskessel faul sei und in den ersten Tagen alle an Magenkrämpfen gelitten hätten, doch dann habe der uprawdom befohlen, das Wasser in den Näpfen abzukochen, danach hätten die Magenstörungen aufgehört. Dann gingen sie schweigend weiter. Der Junge horchte auf die Nachtbomber und schaute zum Himmel auf, der gefärbt war von den roten und grünen Leuchtkugeln und den schnurförmigen Flugspuren der Geschosse und Granaten. Er blickte auf die schlaffen, ermatteten Flammen der immer noch nicht erloschenen Stadtbrände, auf die weißen Mündungsblitze, auf die blauen Detonationen schwerer Geschosse im Leib der Wolga und verlangsamte seinen Schritt immer mehr, bis der Verbindungsoffizier ihn anrief: »Los, los, ein bisschen flotter!«
    Sie gingen durch Ufergeröll; Granaten schwirrten pfeifend über sie hinweg; Posten riefen sie an. Dann stiegen sie auf einem kleinen Pfad die Böschung hinauf, zwischen den gewundenen Laufgräben und den in den lehmigen Berg gehauenen Unterständen hindurch; sie stiegen Erdstufen hinauf, sie klapperten mit den Absätzen über Bretterbohlen, schließlich kamen sie zu einem Durchgang, der mit Stacheldraht abgeriegelt war – das war der Gefechtsstand der 62. Armee. Der Verbindungsoffizier rückte den Gurt zurecht und ging durch den Verbindungsgraben zu den Unterständen des Kriegsrats, die sich von den übrigen durch besonders dicke Balken unterschieden.
    Der Posten ging den Adjutanten rufen; einen Augenblick lang blitzte durch die halb offene Tür anheimelnd das Licht einer elektrischen Tischlampe unter ihrem Schirm hervor.
    Der Adjutant leuchtete mit einer kleinen Laterne, fragte nach dem Familiennamen des Jungen und befahl ihm zu warten.
    »Wie komme ich denn nach Haus?«, fragte der Junge.
    »Das wird schon gehen. Mit Fragen kommt man durch die ganze Welt«, sagte der Adjutant und fügte streng hinzu: »Kommen Sie in den Vorraum, sonst trifft Sie noch eine Granate, und ich muss mich vor dem General dafür verantworten.«
    Im warmen, schummrigen Gang setzte sich der Junge auf die Erde, lehnte sich an die Wand und schlief ein.
    Eine Hand rüttelte ihn kräftig, und in den Wirrwarr seiner Träume, in denen sich die grausamen Kriegsschreie der vergangenen Tage mit dem friedlichen Flüstern seines längst nicht mehr existierenden Elternhauses vermischten, brach eine verärgerte Stimme ein: »Schaposchnikow, rasch zum General…«
    61
    Serjoscha Schaposchnikow verbrachte zwei ganze Tage im Unterstand des Stabsschutzes. Das Leben im Stab zermürbte ihn; es schien ihm, als plagten sich die Leute von morgens bis abends mit Nichtstun ab.
    Er erinnerte sich daran, wie er einmal mit der Großmutter in Rostow acht Stunden lang auf den Zug nach Sotschi warten musste; die jetzige Warterei erinnerte ihn an dieses Umsteigeerlebnis vor dem Krieg. Dann kam ihm sein Vergleich des Hauses »sechs Strich eins« mit dem Kurort Sotschi lächerlich vor. Er bat den Major, der Stabskommandant möge ihn entlassen, doch der zögerte seine Entscheidung hinaus – vom General lag kein Befehl vor. Nachdem er Schaposchnikow aufgerufen hatte, hatte er ihm insgesamt nur zwei Fragen gestellt, und das Gespräch war durch einen Telefonanruf des Armeeoberbefehlshabers unterbrochen worden. Der Stabskommandant hatte entschieden, den Jungen einstweilen noch nicht zu entlassen – vielleicht würde sich der General noch an ihn erinnern.
    Beim Eintreten in den Unterstand begegnete der Stabskommandant Schaposchnikows Blick und sagte: »Schon gut, ich denk dran.«
    Manchmal

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