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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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der Erwachsenen belauscht, setzte er hinzu: »Du solltest besser in den Keller gehen und schlafen, solange es die Umstände erlauben.«
    »Da wird jetzt gleich Anziferow mit Trinitrotoluol einen Durchgang sprengen«, sagte Batrakow.
    Unterdessen diktierte Grekow der Funkerin Wengrowa einen Bericht.
    Er teilte dem Armeestab mit, alles deute darauf hin, dass die Deutschen einen Schlag auf die Traktorenfabrik vorbereiteten. Er teilte allerdings nicht mit, dass das Haus, in dem er mit seinen Leuten saß, seiner Meinung nach auf der deutschen Angriffsachse liegen würde. Doch wenn er Katjas dünnen Hals, ihre Lippen und ihre halb gesenkten Wimpern betrachtete, stellte er sich, und zwar sehr lebhaft, auch diesen zarten Hals gebrochen vor – perlmuttschimmernd sprang ein Halswirbel aus der zerfetzten Haut. Im Geiste sah er diese Wimpern über glasigen Fischaugen, sah tote Lippen wie aus grauem, staubigem Kautschuk.
    Es drängte ihn, sie zu packen, ihre Wärme, ihr Leben zu spüren, solange es ihn und sie noch gab, solange noch so viel Anmut in diesem jungen Geschöpf existierte. Es schien ihm, als wolle er das Mädchen einzig und allein aus Mitleid umarmen, doch rauschte es etwa aus Mitleid in seinen Ohren, pochte ihm das Blut aus Mitleid in den Schläfen?
    Der Stab antwortete nicht sofort.
    Grekow streckte sich so heftig, dass seine Knochen leise knackten, holte geräuschvoll Luft, dachte: »Schon gut, schon gut, die Nacht haben wir noch vor uns«, und fragte schmeichelnd: »Wie geht’s denn diesem Kätzchen, das Klimow gebracht hat? Hat es sich erholt, ist es zu Kräften gekommen?«
    »Wie sollte es«, antwortete die Funkerin.
    Als sich Katja die Zigeunerin und das Kind auf dem Scheiterhaufen vorstellte, begannen ihre Finger zu zittern, und sie schielte zu Grekow hinüber, ob der es wohl bemerke.
    Gestern hatte sie den Eindruck gehabt, als würde niemand im Haus »sechs Strich eins« mit ihr reden wollen, heute aber, als sie ihre Grütze aß, war ein Bärtiger mit einer Maschinenpistole in der Hand an ihr vorbeigelaufen und hatte ihr wie einer alten Bekannten zugeschrien: »Katja, mehr Mumm!«, und hatte mit der Hand gezeigt, wie man mit Schwung den Löffel in den Napf eintauchen musste.
    Den Jungen, der gestern Gedichte gelesen hatte, hatte sie gesehen, als er auf einer Zeltplane Minen schleppte. Ein andermal hatte sie sich umgeschaut und ihn am Wasserkessel stehen sehen; da hatte sie gemerkt, dass sie seinen Blick auf sich gefühlt und sich deshalb umgesehen hatte. Er aber hatte sich noch schnell abwenden können.
    Sie ahnte schon, wer ihr morgen Briefe und Fotos zeigen würde, wer seufzen und sie schweigend ansehen würde, wer ihr ein Geschenk – eine halbe Feldflasche Wasser oder Zwieback – bringen würde, wer ihr erzählen würde, er glaube nicht an die Liebe der Frauen und würde sich nie mehr verlieben … Und der bärtige Infanterist würde sich wahrscheinlich an sie heranmachen und sie betätscheln wollen.
    Endlich antwortete der Stab – Katja teilte Grekow die Antwort mit: »Ich befehle Ihnen, täglich Punkt zwölf Uhr ausführlich Meldung zu erstatten.«
    Plötzlich schlug ihr Grekow auf die Hand und damit auf den Schalter und unterbrach so die Verbindung – sie stieß einen erschrockenen Schrei aus.
    Er lachte auf und sagte: »Ein Granatsplitter ist in das Sendegerät eingeschlagen, die Verbindung wird wiederhergestellt sein, wenn Grekow sie brauchen wird.«
    Die Funkerin schaute ihn verwirrt an.
    »Verzeih, Katjuscha«, sagte Grekow und nahm ihre Hand.
    60
    Gegen Morgen war aus Berjoskins Regiment die Mitteilung in den Divisionsstab gelangt, dass die in Haus »sechs Strich eins« eingeschlossenen Männer einen Gang ausgeschachtet hätten, der mit dem betonierten Werkstunnel zusammenstoße, und danach in die Werkshalle der Traktorenfabrik ausgebrochen seien. Der Diensthabende im Divisionsstab hatte die Meldung über den Vorfall an den Armeestab weitergeleitet, dort war er General Krylow gemeldet worden, und Krylow hatte befohlen, ihm einen der Ausgebrochenen zur Vernehmung zu bringen. Ein Verbindungsoffizier brachte einen Jungen in den Armeegefechtsstand, der vom Stabsdiensthabenden ausgewählt worden war. Sie gingen durch die Schlucht zum Ufer, unterwegs machte der Junge ständig Ausflüchte, stellte Fragen und schien äußerst beunruhigt.
    »Ich muss nach Hause zurück; ich sollte nur den Tunnel auskundschaften, damit die Verwundeten evakuiert werden können.«
    »Nichts da«, antwortete der

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