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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ärgerten ihn die bittenden Augen des Jungen, dann sagte er: »Warum fühlst du dich hier eigentlich nicht wohl? Man gibt dir anständig zu essen, und du sitzt im Warmen. Die bringen dich dort noch früh genug um.«
    Wenn der Tag vom Lärm des Kampfes erfüllt ist, wenn der Mensch bis über die Ohren in den Hexenkessel des Krieges eingetaucht ist, dann ist er außerstande, sein Leben zu sehen, zu begreifen – er muss zumindest einen Schritt beiseitetreten. Erst dann, gleichsam vom Ufer aus, sehen seine Augen, wie gewaltig der Fluss ist – schwamm er wirklich selbst gerade noch in dieser tobenden, schäumenden Flut?
    Still dünkte Serjoscha das Leben im Reserveregiment: die Nachtwache in der dunklen Steppe, der ferne Feuerschein am Himmel, die Gespräche der Soldaten …
    Nur drei Landwehrleute hatte es in die Siedlung bei der Traktorenfabrik verschlagen. Poljakow, der Tschenzow nicht mochte, sagte: »Vom ganzen Reserveregiment sind nur drei übrig – ein Alter, ein Junger und ein Narr.«
    Das Leben im Haus »sechs Strich eins« hatte alles verblassen lassen, was bis dahin gewesen war. Obgleich dieses Leben in höchstem Maße unwahrscheinlich war, erwies es sich doch als das einzig Wirkliche, alles Frühere hingegen war zum Schein geworden.
    Nur nachts sah er manchmal Alexandra Wladimirownas ergrauten Kopf vor sich, die spöttischen Augen von Tante Genia, und sein Herz füllte sich mit Zärtlichkeit.
    Während der ersten Tage im Haus »sechs Strich eins« hatte er gedacht, wie seltsam und ungeheuerlich es wäre, wenn plötzlich Grekow, Kolomeizew oder Anziferow zu ihm nach Hause kämen. Nun aber stellte er sich manchmal vor, wie absurd sich seine Tanten, seine Kusine oder Onkel Viktor Pawlowitsch in seinem jetzigen Leben ausnehmen würden.
    O weh, wenn die Großmutter hören könnte, wie unflätig Serjoscha jetzt fluchte!
    Grekow!
    Es war nicht ganz klar, ob sich nun im Haus »sechs Strich eins« lauter erstaunliche und ungewöhnliche Menschen eingefunden hatten oder ob gewöhnliche Menschen, einmal in dieses Haus geraten, zu besonderen Menschen geworden waren.
    Grekow! Was für eine erstaunliche Mischung aus Kraft, Kühnheit, herrischem Wesen und Sinn fürs Praktische! Er wusste noch, was Kinderstiefel vor dem Krieg gekostet hatten, was für einen Lohn eine Putzfrau oder ein Schlosser bekommen hatte und wie viel Getreide und Geld für einen Arbeitstag in der Kolchose, in der sein Onkel arbeitete, ausbezahlt worden war.
    Manchmal sprach er über die Vorkriegsscherereien in der Armee mit den Säuberungen, Attestationen und Schiebereien bei der Wohnungsverteilung, sprach über gewisse Leute, die 1937 zu Generalswürden gelangt waren, nachdem sie Dutzende von Denunziationen und Entlarvungen angeblicher Volksfeinde geschrieben hatten.
    Dann wieder schien es, als liege seine Stärke in der wahnwitzigen Kühnheit, mit der er, aus einer Mauerbresche hervorspringend, schrie: »Ich lass euch nicht, ihr Hunde!«, und Granaten auf die anstürmenden Deutschen warf.
    Ein andermal schien es, dass seine Stärke in seinem Sinn für Freundschaft lag, in seinem Geschick, mit allen Bewohnern des Hauses bestens auszukommen.
    Sein Leben vor dem Krieg hatte sich durch nichts Besonderes ausgezeichnet; irgendwann einmal war er Grubensteiger gewesen, dann Bautechniker, dann wurde er Hauptmann der Infanterie in einer der vor Minsk stationierten Heereseinheiten, führte militärische Ausbildung im Gelände und in der Kaserne durch, fuhr nach Minsk zur Umschulung, las abends allerlei Bücher, trank Wodka, ging ins Kino, spielte mit den Kameraden Préférence, zankte sich mit seiner Frau, die völlig zu Recht auf viele Mädchen und Damen im Bezirk eifersüchtig war. Das erzählte er alles selbst. Und auf einmal war er für Serjoscha, und nicht nur für ihn, zum kühnen Ritter aus dem Märchen, zum heldenhaften Kämpfer für die Wahrheit geworden.
    Neue Menschen umgaben Serjoscha und verdrängten sogar diejenigen aus seinem Herzen, die ihm am nächsten gestanden hatten.
    Der Artillerist Kolomeizew war Marinekader gewesen, auf Kriegsschiffen gefahren und dreimal in der Ostsee versenkt worden.
    Serjoscha gefiel es, dass Kolomeizew, der sich oft verächtlich über Leute äußerte, über die man besser nicht mit Verachtung sprach, Wissenschaftlern und Schriftstellern eine ungewöhnliche Verehrung entgegenbrachte. Seiner Meinung nach taugten alle Vorgesetzten, die über Rang und Würden verfügten, nichts im Vergleich zu irgend so einem

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