Leben und Schicksal
kahlköpfigen Lobatschewski oder vertrockneten Romain Rolland.
Manchmal redete Kolomeizew über Literatur. Was er sagte, hatte nichts mit Tschenzows Ausführungen über patriotische Erbauungsliteratur zu tun. Irgendein englischer oder vielleicht auch amerikanischer Schriftsteller hatte es ihm angetan. Obwohl Serjoscha niemals etwas von diesem Schriftsteller gelesen und Kolomeizew seinen Namen vergessen hatte, war Serjoscha davon überzeugt, dass dieser Schriftsteller gut schrieb. Mit solch saftigen, farbigen, oft auch obszönen Ausdrücken hatte ihn Kolomeizew gelobt.
»Was mir an ihm gefällt«, sagte Kolomeizew, »ist, dass er mich nicht belehren will. Ein Kerl geht zu einem Weib – fertig; ein Soldat hat sich besoffen – fertig; einem Alten ist seine Alte weggestorben, das wird genau geschildert. Und das ist komisch und kläglich und interessant, und man weiß ja ohnehin nicht, wozu die Menschen da sind.«
Mit Kolomeizew war der Späher Wassja Klimow befreundet.
Einmal hatten sich Klimow und Schaposchnikow in eine deutsche Stellung vorgearbeitet; sie waren über einen Eisenbahndamm gekrochen und hatten sich an einen Trichter, der von einer deutschen Bombe stammte, herangeschlichen; die Bedienungsmannschaft eines schweren Maschinengewehrs und ein Beobachtungsoffizier saßen darin. Eng an den Trichterrand geschmiegt, hatten sie dem deutschen Treiben zugeschaut. Ein untergeordneter MG-Schütze hatte sich die Uniformjacke aufgeknöpft, ein rot kariertes Tuch in den Halsausschnitt seines Hemdes gesteckt und sich rasiert. Serjoscha hörte das Kratzen der staubigen, starren Bartstoppeln unter der Rasierklinge. Der zweite Deutsche löffelte eine flache Konservendose aus; Serjoscha betrachtete einen kurzen, aber eindringlichen Moment lang sein großes Gesicht, auf dem sich konzentriertes Behagen spiegelte. Der Beobachtungsoffizier zog seine Armbanduhr auf. Serjoscha hätte gerne halblaut, um den Offizier nicht zu erschrecken, gefragt: »Heda, hallo, hören Sie, wie spät ist es?«
Klimow hatte den Vorstecker aus der Handgranate gerissen und sie in den Trichter fallen lassen. Als der Staub noch in der Luft hing, warf Klimow die zweite Granate und sprang nach der Explosion in den Trichter. Die Deutschen waren tot, so als hätten sie nicht noch eben, vor einer Minute, gelebt. Klimow, vor Staub und Explosionsgasen niesend, nahm alles an sich, was er brauchen konnte – das Schloss des schweren Maschinengewehrs, das Fernglas; dem noch warmen Offizier zog er vorsichtig, um sich nicht mit Blut zu besudeln, die Uhr vom Arm und holte aus den zerfetzten Uniformen der MG-Schützen die Soldbücher heraus.
Die Beutestücke hatte er abgegeben, über die Vorfälle berichtet, Serjoscha gebeten, ihm ein wenig Wasser in die Hand zu schütten, sich neben Kolomeizew gesetzt und gemeint: »Jetzt wollen wir eine rauchen.«
Da war der Melder von Grekow, Perfiljew, gerannt gekommen, der von sich zu sagen pflegte: »Ich bin ein friedlicher Rjasaner Bürger und Hobbyangler.«
»Hör mal, Klimow, wieso hast du dir’s bequem gemacht?«, hatte Perfiljew geschrien, »der uprawdom sucht dich, du musst noch mal in die deutschen Häuser.«
»Komme sofort«, hatte Klimow mit schuldbewusster Stimme gesagt und angefangen, sein Rüstzeug — die Maschinenpistole und die kleine Segeltuchtasche mit den Granaten – zusammenzusuchen. Er fasste die Sachen behutsam an, als fürchte er, ihnen wehzutun. Viele redete er mit »Sie« an, nie fluchte er.
»Bist du vielleicht Baptist?«, hatte der alte Poljakow einmal Klimow, der einhundertzehn Menschen getötet hatte, gefragt.
Klimow gehörte nicht zu den Schweigsamen und erzählte besonders gern von seiner Kindheit. Sein Vater war Arbeiter im Putilow-Werk. Klimow selbst war Universaldreher und hatte vor dem Krieg in einer Werksgewerbeschule unterrichtet. Serjoscha amüsierte sich über Klimows Geschichte, wie ein Gewerbeschüler eine Schraube verschluckt, zu keuchen begonnen hatte, blau geworden war und wie Klimow ihm mit der Flachzange die Schraube aus dem Rachen gezogen hatte, noch ehe der Rettungswagen eintraf.
Doch einmal hatte Serjoscha Klimow gesehen, als der sich an erbeutetem Schnaps betrunken hatte – er war furchtbar gewesen, selbst Grekow schien damals Angst vor ihm gehabt zu haben.
Der Schlampigste im Haus war Leutnant Batrakow. Seine Stiefel putzte er nie, eine seiner Sohlen war abgetrennt, und er schleifte sie beim Gehen nach, die Rotarmisten brauchten nicht einmal den Kopf zu heben,
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