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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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schon wussten sie, dass der Artillerieleutnant an ihnen vorbeikam. Dafür rieb der Leutnant wohl ein Dutzend Mal am Tag seine Brille mit einem Wildlederläppchen sauber; die Brille entsprach nicht der Sehstärke seiner Augen, Batrakow aber glaubte, dass ihm Staub und Explosionsqualm die Augengläser trübten. Ein paarmal brachte ihm Klimow Brillen, die er gefallenen Deutschen abgenommen hatte. Doch Batrakow hatte immer Pech – das Gestell war gut, aber die Gläser stimmten nicht.
    Vor dem Krieg hatte Batrakow am Technikum Mathematik unterrichtet; er hatte eine auffallend hohe Meinung von sich selbst und sprach über Schulversager in abfälligem Ton.
    Serjoscha hatte er einer Mathematikprüfung unterzogen, bei der dieser sich blamierte. Die Hausbewohner hatten gelacht und gedroht, Schaposchnikow im zweiten Studienjahr sitzenbleiben zu lassen.
    Einmal, während eines deutschen Luftangriffs, als es sich anhörte, als ob toll gewordene Hammerschmiede mit schweren Vorschlaghämmern auf Stein, Erde und Eisen einschlugen, hatte Grekow Batrakow entdeckt, wie er, auf dem Fragment des Treppenhauses sitzend, irgendeine Schwarte las.
    Grekow hatte gesagt: »Nein, das gibt’s doch nicht! Einen Dreck werden die Deutschen erreichen. Was können sie denn schon einem solchen Trottel anhaben?«
    Alle Anstrengungen der Deutschen bewirkten bei den Bewohnern des Hauses »sechs Strich eins« nicht Schrecken, sondern nur herablassenden Spott: »Ach, wie sich der Fritz heute wieder anstrengt!« – »Schau, was diese Halunken sich da ausgedacht haben …« – »Na, was ist denn das für ein Dummkopf, wo legt der denn seine Bomben hin …«
    Batrakow war mit dem Kommandeur des Pionierzugs, Anziferow, befreundet, einem vierzigjährigen Mann, der gerne über seine chronischen Leiden sprach – eine seltene Erscheinung an der Front; unter dem feindlichen Feuer heilten die Geschwüre und Bandscheibenleiden meist von selbst.
    Doch Anziferow litt in der Stalingrader Hölle weiter an zahlreichen Krankheiten, die in seinem massigen Körper nisteten. Der deutsche Doktor hatte ihn nicht kuriert.
    Die Erscheinung dieses mondgesichtigen Mannes mit dem runden, kahlen Schädel und den runden Augen hatte etwas Fantastisches, wenn er, vom Widerschein der Brände beleuchtet, dasaß und seelenruhig mit seinen Pionieren Tee trank. Gewöhnlich zog er dabei die Schuhe aus, weil er Hühneraugen hatte, und dazu auch das Feldhemd – es war ihm immer heiß. Aus einer blaugeblümten Tasse schlürfte er heißen Tee, wischte sich mit einem Tuch von beträchtlicher Größe die Glatze ab, schnaufte, lächelte und machte sich daran, in die Tasse zu blasen, in die der mürrische Ljachow, ein Soldat mit verbundenem Kopf, immer wieder aus einer riesigen, verrußten Teekanne abgestandenes Wasser nachgoss. Manchmal stieg Anziferow, ohne die Stiefel anzuziehen, missmutig ächzend auf einen Ziegelhaufen, um nachzusehen, was draußen in der Welt vorging. So stand er da, barfuß, ohne Hemd, ohne Feldmütze, einem Bauern gleich, der im stürmischen Gewitterregen auf die Schwelle seiner Kate tritt, um nach Haus und Hof zu sehen.
    Vor dem Krieg hatte er als Bauführer gearbeitet. Jetzt hatte sich seine Bauerfahrung umgekehrt. In seinem Gehirn kreiste ständig die Frage, wie Häuser, Wände und Kellerdecken zerstört werden könnten.
    Die Gespräche Batrakows und des Pioniers drehten sich fast ausschließlich um philosophische Probleme. Bei Anziferow, der vom Bauen zum Zerstören übergegangen war, hatte sich das Bedürfnis eingestellt, diesen ungewöhnlichen Wandel zu reflektieren.
    Zuweilen stiegen ihre Gespräche von den philosophischen Höhen – worin besteht der Sinn des Lebens? Gibt es eine Sowjetmacht in der Welt der Gestirne? Worin besteht die Überlegenheit des männlichen Geistes gegenüber dem weiblichen? – hinab zu gewöhnlichen Alltagsfragen.
    Hier, inmitten der Stalingrader Ruinen, war alles anders, und die Weisheit, nach der die Menschen lechzten, war oft aufseiten des tollpatschigen Batrakow.
    »Glaub mir, Wanja«, sagte Anziferow zu Batrakow, »erst durch dich hab ich angefangen, etwas zu begreifen. Früher hab ich gemeint, ich würde das Leben bis ins Letzte durchschauen – wer einen halben Liter Wodka mit Sakuska braucht, wem man eine neue Kühlerhaube beschaffen muss und wem man einfach nur einen Hunderter zuzustecken braucht.«
    Batrakow, der allen Ernstes glaubte, dass er Anziferow mit seinen verquasten Betrachtungen zu einer neuen Einstellung den

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