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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Worte. Wie oft lag Strum wach und lauschte auf den Autolärm draußen.
    Er sah Ljudmila barfüßig ans Fenster treten, sie zog die Gardinen auseinander, schaute hinaus, wartete, kehrte dann lautlos – sie glaubte, dass Strum schlief – ins Bett zurück. Am Morgen fragte sie dann: »Wie hast du geschlafen?«
    »Danke, es geht. Und du?«
    »Es war etwas schwül, ich habe das Fenster geöffnet.«
    »Ach so.«
    Wie dieses nächtliche Gefühl der Schuldlosigkeit, wie dieses Gefühl der völligen Hoffnungslosigkeit wiedergeben?
    »Denk daran, Viktor, die erfahren jedes Wort, du bringst dich und mich und die Kinder ins Unglück.«
    Ein anderes Gespräch: »Ich kann dir nicht alles sagen, aber um Gottes willen – kein Wort zu niemandem, Viktor, wir leben in einer schrecklichen Zeit, du hast ja keine Ahnung. Denke daran, Viktor, kein Wort zu niemandem …«
    Und vor Viktor Pawlowitsch erscheinen die trüben, unglücklichen Augen eines Mannes, den er seit seiner Kindheit kennt, und ihn erfasst die Angst – nicht vor dem, was der alte Freund sagen könnte, sondern vor dem, was er verschweigt, und auch, weil Viktor nicht den Mut findet, die direkte Frage zu stellen: »Bist du ein Spitzel? Laden sie dich vor?«
    Er erinnert sich an das Gesicht seines Assistenten, in dessen Anwesenheit er einmal ironisch verlauten ließ, Stalin habe das Gravitationsgesetz lange vor Newton formuliert.
    »Sie haben nichts gesagt, ich habe nichts gehört«, hatte der junge Physiker heiter erwidert.
    Wozu, wozu diese Scherze? Witze reißen war nun wirklich dumm, gerade so, als würde man mit dem Fingernagel gegen ein Gefäß mit Nitroglyzerin klopfen.
    Oh, klare Kraft eines freien, heiteren Wortes! Sie äußert sich ebendann, dass man aller Angst zum Trotz das Wort plötzlich ausspricht.
    Ob Strum die Tragik der jetzigen freien Gespräche verstand? Sie alle, die daran teilnahmen, hassten den deutschen Faschismus und fürchteten ihn … Warum also winkte ihnen die Freiheit gerade in den Tagen dieses Krieges, der die Wolga erreicht hatte, nun, da sie alle das Leid der militärischen Niederlagen erfuhren, die ihnen nichts als die verhasste deutsche Sklaverei verhießen?
    Strum ging schweigend neben Karimow einher.
    »Ist doch merkwürdig«, sagte er plötzlich, »da liest man ausländische Romane, nehmen wir Hemingway, und seine Helden, intellektuelle Leute, saufen immerzu, wenn sie sich unterhalten. Cocktails, Whisky, Rum, Cognac, wieder Cocktails, wieder Cognac, wieder Whisky aller Marken. Die russische Intelligenz aber, die hat ihr wichtigstes Gespräch bei einem Glas Tee geführt. Bei dem sprichwörtlichen Glas Tee einigten sich die Narodniki und die Sozialdemokraten, und Lenin hat mit seinen Freunden bei einem Glas Tee die große Revolution besprochen. Es heißt allerdings, Stalin bevorzuge Cognac.«
    Karimow bemerkte: »Ja, ja. Zum heutigen Gespräch gab’s ebenfalls Tee. Sie haben recht.«
    »Eben. Der kluge Madjarow! Ein mutiger Mann! Sie packen einen, seine ungewöhnlichen, fast wahnwitzigen Reden.«
    Karimow nahm Strum beim Arm.
    »Viktor Pawlowitsch, haben Sie bemerkt, dass bei Madjarow sich das unschuldigste Ding zur Verallgemeinerung auswächst? Ich mache mir Sorgen darüber. Er ist ja schon 1937 mehrere Monate lang verhaftet gewesen, und dann ließen sie ihn laufen. Damals ist aber niemand rausgekommen. Nicht so ohne Weiteres. Verstehen Sie?«
    »Gewiss verstehe ich, wie denn nicht?«, sagte Strum langsam. »Ob er denunziert?«
    Sie verabschiedeten sich an der Ecke, und Strum schritt auf sein Haus zu.
    »Der Teufel hol ihn, sei’s, wie es wolle«, dachte er. »Zumindest haben wir uns wie Menschen unterhalten, ohne Furcht und über alles, Gott und die Welt, ja, ohne Andeutungen, ohne Heuchelei. Es hat sich gelohnt.«
    Gut, dass es noch Menschen wie Madjarow gab, Menschen ohne innere Zwangsjacke. Und Karimows Worte zum Abschied ließen ihn nicht die übliche Kälte im Herzen verspüren.
    Er erinnerte sich, dass er wieder vergessen hatte, Sokolow von dem Brief aus dem Ural zu erzählen.
    Er ging durch die dunkle, öde Straße.
    Der Gedanke kam plötzlich. Und sofort, ohne jeden Zweifel, wusste er, fühlte er, dass der Gedanke richtig war. Er sah eine neue, ungeheuer neue Erklärung für jene Erscheinungen im Atomkern, die scheinbar keine Erklärung hatten. Die Abgründe wurden jäh zu Brücken. Welch eine Einfachheit, welch ein Licht! Der Gedanke war herrlich und schön, es schien, als hätte nicht Strum ihn geboren, er war aufgetaucht,

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