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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Nuancen von Grau und Blau mit der überwältigenden Farblawine des herbstlichen russischen Waldes wetteifern könnte, wo die weichen, kaum gewellten Linien der Hügel die Seele stärker bezaubern als die schroffen Gebirgszüge des Kaukasus und wo die kargen kleinen Seen mit ihren dunklen, stillen, uralten Wassern das Wesen des Wassers intensiver widerzuspiegeln scheinen als alle Meere und Ozeane.
    Alles vergeht, aber diese riesige, gusseiserne, schwere Sonne im Abenddunst, dieser bittere Wind, gesättigt mit dem Duft von Wermut, lassen sich nicht vergessen. Und dann geschieht es, dass sich die Steppe erhebt – nicht in Armut, sondern in Reichtum.
    Im Frühling ist sie jung, übersät mit Tulpen, ein Ozean, in dem nicht die Wogen tosen, sondern die Farben. Und das böse stachelige Kamelkraut ist grün gefärbt, und seine jungen spitzen Dornen sind zart und weich, noch nicht erstarrt.
    Und in einer Sommernacht in der Steppe sieht man, wie der ganze galaktische Wolkenkratzer emporstrebt – von den blauen und weißen Sternenballungen des Fundaments zu den unter dem Weltendach verschwindenden Dunstschwaden und schwebenden Kuppeln der kugelförmigen Sternenhaufen.
    Die Steppe hat eine ganz besondere Eigenschaft, die sich zu keinem Zeitpunkt ändert, so wie auch sie immer da ist – am Morgen und am Abend, im Winter und im Sommer, in dunkler Unwetter- und in heller Mondnacht: Immer und vor allen Dingen spricht sie zum Menschen von der Freiheit … Die Steppe ruft sie jenen in Erinnerung, die sie verloren haben.
    Als Darenski aus dem Auto stieg, erblickte er einen Reiter, der einen Hügel erklomm. In seinem weiten orientalischen Mantel, um den er eine Schnur gebunden hatte, saß er auf einem kleinen, zottigen Pferd und überschaute von dem Hügel aus die Steppe. Er war alt, sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt.
    Darenski rief den alten Mann und hielt ihm, während er ihm entgegenging, sein Zigarettenetui hin. Der Alte wandte sich schnell mit dem ganzen Leib im Sattel um. Er vereinigte in sich die Beweglichkeit der Jugend und das nachdenkliche Zögern des Alters. Er musterte die Hand mit dem Etui, dann das Gesicht Darenskis, dann die Pistole an seiner Seite, seine drei Balken, die ihn als Oberstleutnant auswiesen, seine blankgeputzten Stiefel. Dann nahm er eine Papirossa und drehte sie zwischen den dünnen braunen Fingern – sie waren so klein und dünn, man hätte sie als Fingerchen bezeichnen können.
    Das breitknochige, harte Gesicht des alten Kalmücken veränderte sich schlagartig, und aus den Runzeln blickten zwei gütige, kluge Augen. Der Blick dieser alten schwarzen Augen, forschend und vertrauensvoll zugleich, barg offenbar einen sehr guten Kern. Darenski wurde grundlos heiter zumute. Das Pferd des Alten, das böse und abweisend die Ohren angelegt hatte, als Darenski auf die beiden zukam, beruhigte sich, stellte neugierig erst das eine, dann das andere Ohr auf und lächelte schließlich, seine großen Zähne entblößend, mit seinem ganzen Maul und seinen schönen Augen.
    »Danke«, sagte der Alte mit dünner Stimme.
    Er strich Darenski mit der Hand über die Schulter und sagte: »Ich hatte zwei Söhne in einer Kavalleriedivision, einer ist gefallen, der Ältere« – und er zeigte mit der Hand über den Kopf des Pferdes, »aber der andere, der Jüngere« – und er zeigte in eine Höhe unterhalb des Pferdekopfes –, »der ist Maschinengewehrschütze, drei Orden hat er bekommen.« Dann fragte er: »Hast du Familie?«
    »Meine Mutter lebt noch, aber mein Vater ist tot.«
    »Ai, schlecht«, der Alte schüttelte den Kopf, und Darenski dachte, dass er nicht aus Höflichkeit Bedauern zeigte, sondern aus wirklicher Anteilnahme, weil der Vater des russischen Oberstleutnants, der ihm eine Papirossa geschenkt hatte, gestorben war.
    Dann stieß der Alte plötzlich einen Schrei aus, winkte unbekümmert mit der Hand, und das Pferd stürmte mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit und unbeschreiblicher Leichtigkeit den Hügel hinab.
    Woran dachte der Reiter, als er durch die Steppe sprengte: an seine Söhne, daran, dass dem russischen Oberstleutnant, der neben dem defekten Auto stand, der Vater gestorben war?
    Darenski verfolgte den schnellen Galopp des Alten, und in seinen Schläfen hämmerte nur dieses eine Wort: Freiheit … Freiheit … Freiheit…
    Und ihn überkam Neid auf den alten Kalmücken.
    69
    Darenski fuhr vom Frontstab aus auf eine längere Dienstreise zu der Armee, die am äußersten linken Flügel stand.

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