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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und ekelhaft kann nur einer sprechen, der von Kindesbeinen an in einem fremden Haus schmarotzt hat und schließlich fortgejagt wurde. Wissen Sie, wie man so jemanden nennt? Einen Lakaien!«
    Er sah Tschernezow durchdringend an und fuhr fort: »Eigentlich wollte ich mich an das erinnern, was uns im Jahr 1898 verband, und nicht an das, was uns 1903trennte.« 43
    »Aha, über die Zeit plaudern, als der Lakai noch nicht rausgeflogen war?«
    Aber Michail Sidorowitsch war ernstlich böse.
    »Ja, genau! Ein verstoßener, flüchtiger Lakai mit Zwirnhandschuhen. Wir tragen keine Handschuhe, das geben wir offen zu. Wir haben blutbeschmierte Hände! Na und! Wir sind ohne Plechanow’sche Handschuhe zur Arbeiterbewegung gekommen. Und was haben Ihnen Ihre Lakaienhandschuhe eingebracht? Jüdische Silberlinge für ein paar Artikelchen in Ihrem ›Sozialistischen Boten‹? An uns aber glauben die Engländer, Franzosen, Polen, Norweger und Holländer hier im Lager! In unseren Händen, in den Händen der Roten Armee, liegt das Schicksal der Welt. Sie ist die Armee der Freiheit.«
    »Soso«, unterbrach ihn Tschernezow, »schon immer? – Und wie war das mit der Besetzung Polens im Jahr ’39 nach dem Pakt mit Hitler? Und mit Litauen, Estland und Lettland, die von euren Panzern niedergewalzt wurden? Und mit der Invasion Finnlands? – Ihre Armee und Stalin haben den kleinen Völkern das weggenommen, was ihnen die Revolution gebracht hatte. Und die Niederschlagung der Bauernunruhen in Mittelasien? Und die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes? All das für Freiheit und Demokratie? Dass ich nicht lache.«
    Mostowskoi hielt Tschernezow seine Hände vor das Gesicht und sagte: »Da, schauen Sie, keine Lakaienhandschuhe.«
    Tschernezow nickte: »Erinnern Sie sich an den Polizeiobersten Strelnikow? Er arbeitete auch ohne Handschuhe, schrieb falsche Geständnisse für halb totgeprügelte Revolutionäre. Wozu brauchten Sie das Jahr ’37, etwa um gegen Hitler zu kämpfen? Hat Strelnikow Sie das gelehrt oder Marx?«
    »Ihre abscheulichen Reden erstaunen mich nicht im Geringsten«, sagte Mostowskoi. »Aus Ihrem Munde kann ja gar nichts anderes kommen. Was mich wirklich wundert, ist, warum die Hitler-Leute Sie im Lager festhalten. Uns hassen sie aus tiefster Seele. Das ist begreiflich. Aber wozu hat Hitler Sie und Ihresgleichen in ein Lager gesteckt?«
    Tschernezow musste lachen; sein Gesicht nahm wieder den gleichen Ausdruck an wie zu Beginn des Gesprächs.
    »Sie tun es eben«, sagte er. »Sie können sich ja für mich verwenden. Vielleicht lässt man mich dann laufen.«
    Aber Mostowskoi war nicht zum Scherzen aufgelegt.
    »Sie mit Ihrem Hass auf uns dürfen einfach nicht in einem Hitler’schen Lager sitzen. Und nicht nur Sie, dieses Subjekt da auch«, und er zeigte auf Ikonnikow-Morsch, der sich ihnen näherte. Ikonnikows Gesicht und Hände waren lehmverschmiert.
    Er reichte Mostowskoi ein paar schmutzige beschriebene Blätter und sagte: »Lesen Sie, vielleicht müssen wir morgen sterben.« Mostowskoi versteckte die Blätter unter seinem Strohsack und brummte: »Ich werd’s lesen, aber warum wollen Sie aus diesem Jammertal scheiden?«
    »Wissen Sie, was ich gehört habe? Die Gruben, die wir ausgehoben haben, sind für Gaskammern bestimmt. Heute haben sie schon angefangen, die Fundamente zu betonieren.«
    »Ach, dieses Gerücht lief schon um, als sie die Eisenbahnschienen gelegt haben«, sagte Tschernezow.
    Er sah sich um, und Mostowskoi dachte plötzlich: »Tschernezow vergewissert sich, ob die anderen, die von der Arbeit kommen, auch sehen, dass er da so ganz einfach mit einem alten Bolschewiken plaudert. Er brüstet sich damit sicher vor den Italienern, Norwegern, Spaniern und Engländern. Am meisten brüstet er sich aber vermutlich vor den russischen Kriegsgefangenen.«
    »Ja, sollen wir denn da weiter mitmachen?«, fragte Ikonnikow-Morsch. »Sollen wir bei der Vorbereitung dieser Gräuel auch noch mithelfen?«
    Tschernezow zuckte die Achseln.
    »Was glauben Sie denn – wir sind doch nicht in England. Auch wenn sich achttausend Mann weigern, die legen alle innerhalb einer Stunde um.«
    »Nein, ich kann nicht«, sagte Ikonnikow-Morsch. »Ich tu’s nicht. Ich tu’s nicht.«
    »Wenn Sie sich weigern zu arbeiten, sind Sie in zwei Minuten ein toter Mann«, sagte Mostowskoi.
    »Ja«, bestätigte Tschernezow, »dem können Sie glauben; der Genosse weiß, was es heißt, in einem Land zum Aufstand aufzurufen, in dem es keine Demokratie

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