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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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wie er aus Russland nach Paris geflohen war, hatte es in einem Gedicht beschrieben:
    »Es geht ein Fremder, gestützt auf einen Stock,
    Da muss ich plötzlich an dich denken.
    Es fährt ein Wagen, fährt auf roten Rädern,
    Da muss ich plötzlich an dich denken.
    Es wird im Gang die Lampe angemacht am Abend,
    Da muss ich plötzlich an dich denken.
    Was auch geschieht, an Land, auf See, am Himmel,
    Bei allem muss ich an dich denken.«
    Es verlangte ihn, noch einmal zu Mostowskoi zu gehen und ihn zu fragen: »Haben Sie vielleicht Natascha Sadonskaja gekannt? Lebt sie noch? Sind Sie vielleicht sogar all die Jahre ganz in ihrer Nähe gewesen?«
    72
    Beim Abendappell war Keise, der Stubenälteste, ein Hamburger Gewohnheitsverbrecher, gut aufgelegt. Er trug heute gelbe Gamaschen und ein cremefarbenes kariertes Jackett mit Aufsatztaschen und sang mit starkem deutschem Akzent leise ein russisches Lied vor sich hin: »Wenn es morgen Krieg gibt, wenn wir morgen marschieren …«
    Sein zerknittertes gelbes Gesicht mit den leblosen braunen Augen drückte an diesem Abend Zufriedenheit aus. Seine weiße, gänzlich unbehaarte Hand, mit deren Fingern er ohne weiteres ein Pferd erdrosseln könnte, klopfte den Gefangenen gutmütig auf Schultern und Rücken. Töten war für ihn so einfach wie jemandem ein Bein stellen. Nach einem Mord war er immer ein bisschen verwirrt, wie ein junger Kater, der beim Spiel einen Maikäfer getötet hat.
    Meistens tötete er im Auftrag des Sturmführers Drottenhaar, der die Sanitätsabteilung im östlichen Lagerbezirksblock leitete.
    Das Schwierigste war, die Leichen der Ermordeten ins Krematorium zu schaffen, aber damit gab sich Keise nicht ab, niemand wagte es, ihm eine solche Schmutzarbeit zuzumuten. Drottenhaar hatte Erfahrung und ließ es nicht so weit kommen, dass die Leute zu schwach zum Gehen wurden und man sie auf der Trage zum Hinrichtungsplatz bringen musste.
    Keise trieb die zur Operation Vorgesehenen nicht an, er machte ihnen gegenüber keine gemeinen Bemerkungen, stieß oder schlug niemanden von ihnen auch nur ein Mal. Mehr als vierhundertmal war Keise die zwei Betonstufen zu der Sonderzelle hinaufgestiegen und hatte immer ein lebhaftes Interesse für jenen Menschen verspürt, an dem die Operation vollzogen wurde: für jenen Blick voller Schrecken und Ungeduld, voller Unterwürfigkeit, Qual, Feigheit und leidenschaftlicher Neugier, mit dem der Verurteilte denjenigen empfing, der gekommen war, um ihn zu töten.
    Keise war sich selbst nicht darüber im Klaren, warum er an dieser routinemäßigen Arbeit Gefallen fand. Die Sonderzelle sah langweilig aus: ein Hocker, grauer Steinfußboden, ein Abflussrohr, ein Wasserhahn, ein Schlauch, ein Schreibpult mit einem Buch für Eintragungen.
    Man hatte die Operation zu etwas ganz Alltäglichem gemacht, es wurde von ihr immer halb im Scherz gesprochen. Wenn Keise die Operation mit Hilfe einer Pistole vollzog, nannte er das »eine Kaffeebohne in den Kopf knallen«; führte er sie mit einer Phenol-Spritze durch, so gebrauchte er dafür den Ausdruck »Verabreichung des Elixiers«.
    Erstaunlich und einfach, so schien es Keise, wurde das Geheimnis des menschlichen Lebens in Kaffeebohne und Elixier enthüllt.
    Seine dunklen Augen schienen keinem Lebewesen zu gehören. Sie waren wie aus Plastik oder ausgehärtetem, gelbbraunem Harz … Und wenn in Keises Betonaugen ein Funken Heiterkeit erschien, überkam die Menschen Furcht, so wie einen Fisch Furcht überkommt, wenn er dicht an einen halb im Sand steckenden Wurzelstock herangeschwommen ist und plötzlich bemerkt, dass die dunkle, glitschige Masse Augen, Zähne und Fühler besitzt.
    Hier im Lager spürte Keise das Gefühl von Überlegenheit gegenüber den in den Baracken lebenden Künstlern, Revolutionären, Gelehrten, Generälen und Predigern. Dabei ging es nicht um die Kaffeebohne und das Elixier. Es war das Gefühl einer natürlichen Überlegenheit, das ihn mit Freude erfüllte.
    Auf seine gewaltige Körperkraft, die es ihm ermöglichte, alle Hindernisse bis hin zu einem Panzerschrank mühelos aus dem Weg zu räumen, bildete er sich gar nicht einmal so viel ein. Wirklich stolz war er auf seine empfindsame Seele und seinen Verstand, der als rätselhaft und schwierig galt. Sein Zorn und überhaupt seine Stimmungen schienen keiner Logik zu gehorchen, sondern waren scheinbar ganz unberechenbar. Als im Frühjahr ein Gefangenentransport angekommen war und einige von der Gestapo ausgewählte russische

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