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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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abgerackert.«
    Etwas verlegen wandte Tschernezow ein, dass er schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Sowjetunion gelebt habe. Er hatte schon oft bemerkt, dass die sowjetischen Sträflinge, sobald sie das Wort »Emigrant« oder »Ausländer« hörten, zurückschreckten. Aber Pawljukow reagierte nicht auf seine Worte.
    Sie setzten sich auf einen Bretterstapel, und Pawljukow, ein echter Sohn des Volkes, wie Tschernezow dachte, mit breiter Stirn und breiter Nase, sagte, während er sich nach der Wache umsah, die in einem kleinen Betontürmchen auf und ab ging: »Ich hab ja keine andere Wahl: entweder zu den Freiwilligen gehen oder krepieren.«
    »Um deine Haut zu retten?«, fragte Tschernezow.
    »Ich bin kein Kulak«, sagte Pawljukow, »ich musste mich bei Waldarbeiten nicht für sie abrackern, aber auf die Kommunisten habe ich trotzdem einen Zorn. Man kann keinen freien Schritt tun. Das darfst du nicht, die darfst du nicht heiraten, diese Arbeit ist nicht deine Arbeit. Der Mensch wird zum dressierten Tier. Ich hatte mir schon als Junge gewünscht, einen Laden aufzumachen, in dem es alles Mögliche zu kaufen gäbe. Zu dem Laden sollte eine Imbissstube gehören – du kaufst, was du brauchst, und bitte, wenn du willst, trink ein Gläschen, oder iss etwas Warmes, trink ein Bierchen. Alles billig! In meinem Restaurant hätte es auch Hausmannskost gegeben. Bitte sehr! Bratkartoffeln! Schmalz mit Knoblauch! Sauerkohl! Wissen Sie, was ich den Leuten als Sakuska serviert hätte? Markknochen! Sie kochen im Kessel, bitte sehr, trink hundert Gramm und nimm dir ein Knöchelchen und Schwarzbrot, natürlich mit Salz. Und überall Ledersessel, damit sich keine Läuse einnisten. Du sitzt, ruhst dich aus, wirst bedient. Aber wenn ich davon nur ein Wort gesagt hätte, wäre ich gleich nach Sibirien gekommen. Und jetzt frage ich mich, wieso soll so etwas dem Volk schaden? Ich hätte meine Preise um die Hälfte niedriger angesetzt als die staatlichen.«
    Pawljukow blickte seinen Gesprächspartner schräg an: »In unserer Baracke hatten sich vierzig Mann für die Freiwilligeneinheiten eingetragen.«
    »Und aus welchem Grund?«
    »Für Suppe, für einen Mantel, um sich nicht zu Tode zu rackern.«
    »Und weshalb noch?«
    »Manche wegen der Ideologie.«
    »Welcher?«
    »Das ist verschieden. Manche wegen der Menschen, die in den Lagern umgekommen sind. Andere waren die Armut auf dem Land leid. Ertragen den Kommunismus nicht mehr.«
    Tschernezow sagte: »Das ist gemein!«
    Der Sowjetbürger sah den Emigranten neugierig an, und dieser bemerkte dessen belustigt-verständnislose Neugier.
    »Das ist ehrlos, unmoralisch und schlecht«, sagte Tschernezow, »es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um abzurechnen, nein, so wird nicht abgerechnet. Es ist schlecht – sich selbst gegenüber und gegenüber dem eigenen Land.«
    Er stand auf und strich sich mit der Hand über das Gesäß.
    »Mir kann man wirklich nicht nachsagen, dass ich die Bolschewiki liebe. Aber jetzt ist wahrhaftig nicht der Zeitpunkt, um abzurechnen. Zu Wlassow dürfen Sie nicht gehen.« Er stockte plötzlich und fügte heftig hinzu: »Hören Sie, Genosse, Sie dürfen nicht gehn!« Und bei dem Wort »Genosse«, das ihm wie in seiner Jugendzeit über die Lippen kam, konnte er seine Bewegtheit nicht mehr verbergen, tat es auch nicht und murmelte: »Mein Gott, mein Gott, konnte ich denn …«
    Der Zug fuhr ab. Die Luft war schwer vom Staub, vom Duft des Flieders und dem Gestank der Abwässer, vom Dampf der Lokomotive und den Ausdünstungen der Bahnhofsküche.
    Das Licht des Scheinwerfers verschwand langsam in der Ferne und stand dann scheinbar still neben den anderen grünen und roten Lichtern.
    Der Student verharrte noch eine Weile auf dem Bahnsteig und ging dann durch das Seitentor. In einem plötzlichen Gefühlsausbruch, von dem auch er mitgerissen wurde, war ihm die Frau um den Hals gefallen und hatte ihn zum Abschied auf Stirn und Haare geküsst … Er ließ den Bahnhof hinter sich, und langsam ergriff das Glück Besitz von ihm, verdrehte ihm den Kopf; es schien, als sei dies der Anfang – der Beginn von etwas, das sein ganzes Leben ausfüllen würde …
    Er dachte an diesen Abend, als er Russland verließ, auf dem Weg nach Slawuta. Er dachte an ihn in der Pariser Klinik, in der man ihm das am grünen Star erkrankte Auge entfernt hatte, und er dachte jedes Mal daran, wenn er die kühle, dämmrige Eingangshalle der Bank betrat, in der er arbeitete.
    Der Dichter Chodassewitsch, der

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