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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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übel zum Teil des eigenen Lebens.«
    »Seltsam«, erwiderte Tschernezow, »dass man sich in dieser Wolfsgrube wiedertrifft.« Und plötzlich setzte er hinzu: »Was für wunderbare Worte: Weizen, Korn, warmer Herbstregen …«
    »Ja, dieses Lager ist wirklich furchtbar«, lachte Mostowskoi. »Im Vergleich dazu erscheint einem sogar die Begegnung mit einem Menschewiken angenehm.«
    Tschernezow nickte traurig. »Ja, für euch ist es wirklich hart.«
    »Der Nazismus«, sagte Mostowskoi, »der Nazismus: Ich hätte nicht gedacht, dass es eine solche Hölle geben kann.«
    »Na, Sie brauchen sich doch nicht zu wundern«, erwiderte Tschernezow, »für Sie ist Terror doch nichts Neues.«
    Mit einem Schlag war die gemeinsame Trauer und alles, was sie einander nähergebracht hatte, wie weggewischt. Schonungsloser, offener Streit brach aus.
    Tschernezows Verleumdung war deshalb so verletzend, weil sie etwas Wahres enthielt; er machte aus den Grausamkeiten, die den Aufbau des Sozialismus begleitet hatten, aus vereinzelten Fehlgriffen eine Gesetzmäßigkeit und fuhr fort: »Sie meinen natürlich – das ist ja auch sehr bequem –, dass es sich im Jahre 1937 nur um ein paar Ausschreitungen gehandelt hat und dass den Leuten bei der Kollektivierung eben nur der Erfolg zu Kopf gestiegen ist und dass Ihr teurer, großer Führer eben nur ein wenig grausam und machtgierig ist. Aber umgekehrt wird ein Stiefel draus: Gerade seine ungeheuerliche Unmenschlichkeit hat Stalin zum Nachfolger Lenins gemacht. Sie und Ihresgleichen schreiben ja so gern: Stalin, das ist Lenin heute. Sie glauben immer noch, dass die Armut der Landbevölkerung und die Rechtlosigkeit der Arbeiter temporäre Erscheinungen, Kinderkrankheiten sind. Der Weizen, den Sie, die wahren Kulaken, die wahren Monopolisten, dem Bauern für einen Kilopreis von fünf Kopeken abkaufen und demselben Bauern für einen Rubel pro Kilo verkaufen, der bildet die Grundlage für Ihren Aufbau des Sozialismus.«
    »Und Sie, ein Menschewik, ein Emigrant, sagen mir hier, Stalin sei Lenin heute«, erwiderte Mostowskoi. »Wir sind die rechtmäßigen Erben sämtlicher Generationen russischer Revolutionäre, von Rasin und Pugatschow bis heute. Wir sind keine landesflüchtigen menschewistischen Renegaten, und Stalin ist der Nachfolger Rasins, Dobroljubows undHerzens.« 42
    »Von wegen«, gab Tschernezow zurück. »Wissen Sie eigentlich, was die freien Wahlen zur Konstituierenden Versammlung für Russland bedeutet haben? Nach tausendjähriger Knechtschaft! Nach tausend Jahren Unfreiheit war Russland kaum ein halbes Jahr frei. Ihr Lenin hat die russische Freiheit nicht geerbt, sondern zerstört. Wenn ich an die Prozesse des Jahres ’37 denke, dann kommt mir eine ganz andere Erbschaft in den Sinn. Erinnern Sie sich an Oberst Sudeikin, den Chef der dritten Abteilung? Er wollte zusammen mit Degajew Verschwörungen anzetteln, den Zaren einschüchtern und so die Macht ergreifen. Und Sie behaupten, Stalin sei der Nachfolger Herzens?«
    »Ja, sind Sie denn total verrückt?«, ereiferte sich Mostowskoi. »Ist das Ihr Ernst mit Sudeikin? Und die größte soziale Revolution, die Expropriation der Expropriateure, die Enteignung der kapitalistischen Fabrikherren und der Grundbesitzer? Die haben Sie wohl übersehen? Wessen Erbe ist denn das – etwa Sudeikins? Und die Abschaffung des Analphabetentums und die Schwerindustrie? Und das Vordringen des vierten Standes, der Arbeiter und Bauern, in alle Bereiche menschlicher Tätigkeit? Ist das vielleicht Sudeikins Erbe? Sie können einem leidtun.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte Tschernezow. »Fakten lassen sich nicht bestreiten, nur erklären. Alle Ihre Marschälle, Schriftsteller und Doktoren der Wissenschaft, Ihre Künstler und Volkskommissare sind keine Diener des Proletariats, sondern des Staates. Und die, die auf dem Feld und in den Fabriken arbeiten, die werden doch nicht einmal Sie als die Herrschenden bezeichnen. Schöne Herrscher sind mir das.«
    Er beugte sich plötzlich zu Mostowskoi hinüber und sagte: »Von euch allen imponiert mir nur Stalin. Er macht die Drecksarbeit. Und ihr seid die Saubermänner! Stalin weiß: Eiserner Terror, Straflager, mittelalterliche Hexenprozesse – das sind die Pfeiler, auf denen der ›Sozialismus in einem Land‹ ruht.«
    Michail Sidorowitsch erwiderte ruhig: »Mein Lieber, Ihre Gemeinheiten sind mir nichts Neues. Allerdings haben Sie, das muss ich offen sagen, schon eine besonders unangenehme Art zu reden. So widerlich

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