Leben und Schicksal
gibt.«
Irgendwie ärgerte ihn der Streit mit Mostowskoi. Hier im Hitlerlager erschienen ihm die Worte, die er in seiner Pariser Wohnung so oft mit Überzeugung ausgesprochen hatte, plötzlich falsch und sinnlos. Bei den Gesprächen der Lagerinsassen, die er belauschte, fiel oft das Wort »Stalingrad«. Mit dieser Stadt hing, ob er es nun wollte oder nicht, das Schicksal der Welt zusammen.
Ein junger Engländer hatte ihm das Victory-Zeichen gezeigt und gesagt: »Ich bete für Sie, Stalingrad hat die Lawine angehalten«, und Tschernezow hatte sich bei diesen Worten glücklich und gerührt gefühlt.
Er sagte zu Mostowskoi: »Wissen Sie, Heine hat gesagt, dass nur ein Dummkopf dem Feind seine Schwäche zeigt. Vielleicht bin ich so ein Dummkopf, denn ich gebe Ihnen recht: Ihre Armee führt tatsächlich einen großen, entscheidenden Kampf. Es ist bitter für einen russischen Sozialisten, dies zu erkennen, sich darüber zu freuen und stolz zu sein, und gleichzeitig zu leiden und Sie zu hassen.«
Er schaute Mostowskoi an, und diesem schien es, als hätte sich auch das zweite, gesunde Auge Tschernezows mit Blut gefüllt.
»Aber«, fuhr Tschernezow fort, »haben Sie denn hier nicht inzwischen am eigenen Leib erfahren, dass der Mensch nicht ohne Demokratie und Freiheit leben kann? Die zu Hause haben es ja leider vergessen.«
Mostowskoi runzelte die Stirn: »Jetzt hören Sie aber auf, hysterisch zu sein.«
Er warf einen Blick hinter sich, und Tschernezow dachte: »Es macht ihn nervös, dass die anderen, die von der Arbeit kommen, sehen können, wie er sich da so einfach mit einem menschewikischen Emigranten unterhält. Er schämt sich dessen sicher vor den Ausländern. Am meisten schämt er sich aber wohl vor den russischen Kriegsgefangenen.«
Die blinde, blutunterlaufene Augenhöhle starrte Mostowskoi an.
Ikonnikow fasste den Geistlichen, der auf einer der mittleren Pritschen saß, am Fuß und fragte in französisch-deutsch-italienischem Kauderwelsch: »Que dois je faire, mio padre? Nous travaillons dans una Vernichtungslager.«
Mit seinen anthrazitfarbenen Augen musterte Guardi die Gesichter der Umstehenden.
»Tout le monde travaille là-bas. Et mois je travaille là-bas. Nous sommes des esclaves«, sagte er langsam. »Dieu nous pardonnera.«
»C’est son métier«, fügte Mostowskoi hinzu.
»Mais ce n’est pas votre métier«, wies Guardi ihn zurecht.
Ikonnikow-Morsch sagte hastig: »Sehen Sie, Michail Sidorowitsch, auch Sie sind ja dieser Ansicht; aber ich will keine Vergebung der Sünden. Sagen Sie vor allem nicht, dass diejenigen die Schuld daran tragen, die uns zwingen; wir sind nur Sklaven, wir tragen keine Schuld, weil wir nicht frei sind. Ich bin frei! Ich baue ein Vernichtungslager, und ich habe mich dafür vor den Menschen zu verantworten, die man darin umbringen wird. Ich kann ›Nein‹ sagen. Keine Macht der Welt kann mich daran hindern, wenn ich stark genug bin, den Tod nicht zu fürchten. Und ich werde ›Nein‹ sagen! Je dirai ›non‹, mio padre, je dirai ›non‹!«
Guardis Hände berührten das graue Haupt Ikonnikows.
»Donnez-moi votre main«, sagte er.
»Na, nun wird der gute Hirte das verirrte Schaf ermahnen«, spöttelte Tschernezow, und Mostowskoi nickte ihm in unwillkürlichem Einverständnis zu.
Aber Guardi ermahnte lkonnikow nicht. Er führte die schmutzige Hand Ikonnikows an seine Lippen und küsste sie.
71
Am nächsten Tag unterhielt sich Tschernezow mit einem seiner wenigen sowjetischen Bekannten, dem Rotarmisten Pawljukow, der als Sanitäter im Krankenrevier arbeitete.
Pawljukow erzählte Tschernezow, dass er befürchte, man werde ihn bald aus dem Revier vertreiben und in die Baugruben schicken.
»Das alles verdanke ich den Kerlen von der Partei«, klagte er. »Die können es einfach nicht ertragen, dass ich mir hier ein gutes Pöstchen ergattert habe. Ich habe alle entscheidenden Leute geschmiert, aber die haben die Ihrigen überall eingeschleust, in die Küche, in den Waschraum, überall. Wissen Sie noch, Alter, wie’s im Frieden war? Im Stadtbezirkskomitee saßen sie, in der Gewerkschaftsleitung saßen sie, das stimmt doch? Und hier haben sie’s auch geschafft. In der Küche sorgen sie dafür, dass ihre Leute ihnen anständige Portionen austeilen. Ein alter Bolschewik lebt hier wie im Sanatorium, aber unsereins kann wie ein Hund verrecken, da machen die keinen Finger krumm. Ist das etwa gerecht? Wir haben uns doch auch unser Leben lang für die Sowjetmacht
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