Leben und Schicksal
man den disziplinlosen Kerl«, schimpfte Neudobnow und zog heftig den Vorhang zu.
Das einfache Gesicht Werschkows legte sich in sorgenvolle Falten. In erster Linie bekümmerte ihn, dass seinem Korpskommandeur der Appetit verdorben werden könnte. Daneben empfand er aber auch Mitleid mit dem Soldaten, ein Mitleid, das sich aus Spott, heimlicher Bewunderung und Kameradschaftsgeist, väterlicher Zuneigung, Trauer und Besorgnis zusammensetzte. Als er daher rapportierte – »Zu Befehl, nachgehen und berichten« –, fügte er spontan hinzu: »Seine Mutter lebt hier, und der Russe kennt eben sein Maß nicht; er war sicher traurig, wollte sich von der Alten gehörig verabschieden und hat sich in der Dosis verschätzt.«
Nowikow kratzte sich im Nacken, zog den Teller zu sich heran und dachte: »Teufel noch mal, ich gehe nie mehr von der Truppe weg«, und das betraf die Frau, die auf ihn wartete.
Getmanow kam rosig und vergnügt kurz vor Abfahrt des Zuges zurück. Abendessen wollte er nicht, bat sich lediglich eine Flasche der von ihm bevorzugten Mandarinenlimonade aus.
Ächzend zog er sich die Stiefel aus, legte sich aufs Sofa und stieß mit dem bestrumpften Fuß die Abteiltür zu.
Er begann, Nowikow zu erzählen, was er von einem alten Kameraden, dem Sekretär des Gebietskomitees, erfahren hatte. Dieser Sekretär war tags zuvor aus Moskau zurückgekommen, wo er sich mit einem jener privilegierten Menschen getroffen hatte, die an Festtagen auf der Tribüne des Mausoleums stehen dürfen, allerdings nicht zu nahe bei dem für Stalin reservierten Mikrofon. Dieser Mann wusste natürlich selbst nicht alles, und er erzählte dem Sekretär des Gebietskomitees, den er aus einer Zeit kannte, da dieser Instrukteur des Bezirkskomitees in einer kleinen Stadt an der Wolga gewesen war, auch bei weitem nicht alles, was er wusste. Der Sekretär des Gebietskomitees seinerseits, nachdem er seinen Gesprächspartner auf einer unsichtbaren Waage gewogen hatte, gab nur einen kleinen Teil dessen, was er gehört hatte, dem Korpskommissar Getmanow weiter, und dieser wieder nur einen Bruchteil dem Obersten Nowikow …
Doch er redete an diesem Abend in so vertraulichem Ton mit Nowikow, wie er das nie zuvor getan hatte. Er schien vorauszusetzen, dass Nowikow genau wusste, wie groß die exekutive Macht Malenkows war, und ebenso, dass außer Molotow nur Berija den Genossen Stalin duzen dürfe und dass Genosse Stalin nichts mehr hasse als eigenmächtiges Handeln und dass Genosse Stalin den Sulguni, einen georgischen Käse, liebe und dass Genosse Stalin wegen des schlechten Zustands seiner Zähne das Brot in Wein eintunken müsse und dass er – das bleibt aber unter uns – Narben habe, weil er als Kind an Pocken erkrankt sei, und dass Molotow schon lange nicht mehr der zweitmächtigste Mann in der Partei sei und dass Jossif Wissarionowitsch in letzter Zeit Nikita Sergejewitsch nicht mehr so sehr schätze, ja, dass er ihn kürzlich während einer Rundfunkübertragung sogar mit Flüchen überhäuft habe.
Dieser vertrauliche Ton des Gesprächs über die Männer an der Spitze des Staates, bei dem Nowikow erfuhr, dass Stalin sich bei einer Begegnung mit Winston Churchill zum Spaß bekreuzigt habe und dass ihm die Überheblichkeit eines seiner Marschälle sehr missfalle – ebendie Vertraulichkeit dieses Tons schien weit wichtiger als die mehr oder weniger andeutungsweise überlieferten Worte aus dem Munde des Mannes, der auf dem Mausoleum gestanden hatte – Worte, nach denen Nowikow insgeheim schon lange gedürstet hatte. Es war also endlich so weit, stellte er nicht ohne innere Befriedigung fest, deren er sich allerdings auch etwas schämte. »Ich hab’s also endlich geschafft«, dachte er, »ich gehöre nun auch zum inneren Kreis.«
Bald darauf setzte sich der Zug in Bewegung, lautlos und ohne vorheriges Signal.
Nowikow trat auf die geschlossene Plattform, öffnete die Tür des Waggons und spähte in die Dunkelheit hinaus, die über der Stadt lag. Und wieder schlug sein Herz »Gen-ia, Gen-ia, Gen-ia«. Von der Lokomotive her klangen durch das Rattern und Stampfen hindurch Fetzen des schwermütigen Liedes »Jermak« zu ihm herüber.
Das Rattern der Stahlräder auf den Stahlschienen und das Rasseln der Eisenwaggons, die die Stahlmassen der Panzer an die Front schafften, die jungen Stimmen und der kalte Wind von der Wolga, der weite Sternenhimmel – all das berührte ihn irgendwie neu, anders als noch vor einer Sekunde, anders als in diesem
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