Leben und Schicksal
zugedeckt und das Kopfkissen nicht mehr zerdrückt war, auch die Ordnung in ihrem Herzen wiederhergestellt. Aber als keine Asche mehr neben dem Kopfende des Bettes lag und der letzte Zigarettenstummel vom Regalrand verschwunden war, merkte Genia, dass die versuchte Selbsttäuschung misslungen war, dass sie auf der ganzen Welt nichts anderes brauchte als Nowikow. Sie wollte unbedingt Sofja Ossipowna von dem Vorgefallenen erzählen – nur ihr, nicht ihrer Mutter, auch nicht der Schwester; und sie ahnte auch, warum sie sich gerade ihr und keiner anderen anvertrauen wollte.
»Ach, Sonjetschka, Sonjetschka Lewintonicha«, sagte sie laut vor sich hin.
Dann fiel ihr plötzlich ein, dass Marussja tot war. Sie begriff, dass sie ohne Nowikow nicht leben konnte, und trommelte vor Verzweiflung mit den Fäusten auf den Tisch. Dann wieder sagte sie sich: »Ach was, ich brauch niemanden«, um gleich darauf an der Stelle zu knien, wo sein Mantel gehangen hatte, und zu flehen: »Bleib am Leben!«
Dann dachte sie wieder: »Alles nur Komödie, was bist du doch für eine nichtswürdige Frau.«
Sie begann, sich absichtlich zu quälen, sich im Namen irgendeiner gemeinen, boshaften, einmal weiblichen, dann wieder männlichen Person eine Strafpredigt zu halten: »Der Dame ist es langweilig geworden, klar, so ohne Mann, sie war eben verwöhnt, und dann all die Jahre … Den einen hat sie fallenlassen, natürlich, was soll sie auch mit Krymow, den wollten sie ja sowieso aus der Partei ausschließen. Dagegen so ein Kommandeur! Was für ein Mann! Da kriegt jede Lust, klar … Und wie wirst du ihn jetzt halten? Du hast ihm ja schon alles gegeben. Jetzt kommen die schlaflosen Nächte, in denen du dich ständig fragst, ob er noch am Leben ist oder ob er sich etwa eine neunzehnjährige Telefonistin angelacht hat …«, und dann, fügte die zynische Stimme den für Genia äußerst überraschenden Gedanken hinzu: »Na, macht nichts, du wirst ihm ja doch bald nachreisen.«
Sie begriff nicht, warum sie Krymow nicht mehr liebte. Aber da gab es nichts zu begreifen. Sie war glücklich, sonst war nichts wichtig.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Krymow ihrem Glück im Wege sei, dass er die ganze Zeit zwischen Nowikow und ihr stehe und ihre Freude vergifte; dass er noch immer ihr Dasein zugrunde richte. Warum musste sie sich so quälen, wozu diese Gewissensbisse? Es war nun mal so, sie liebte ihn nicht mehr! Was also wollte er noch von ihr, warum ließ er sie nicht in Ruhe? Sie hatte doch ein Recht, glücklich zu sein, ein Recht, den zu lieben, den sie nun mal liebte. Warum musste ihr denn Nikolai Grigorjewitsch immer so schwach, so hilflos, verstört und einsam erscheinen? Gar so schwach und gar so gut war er doch gar nicht!
Sie steigerte sich immer mehr in ihre Erbitterung gegen Krymow hinein. Nein, nein, sie würde ihm ihr Glück nicht opfern … war er nicht grausam, verbohrt und geradezu besessen fanatisch? Nie hatte sie sich mit seiner Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid abfinden können. Wie fremd ihr und ihren Eltern all das gewesen war … »Kein Mitleid mit den Kulaken«, hatte er gesagt, als Zehntausende von Frauen und Kindern in den Dörfern Russlands und der Ukraine elendiglich verhungerten. »Man sperrt keine Unschuldigen ein«, war sein Kommentar zu Jagodas und Jeschows Wüten gewesen, und als Alexandra Wladimirowna einmal erzählt hatte, wie 1918 in Kamyschin Kaufleute und Hausbesitzer mit ihren Kindern, unter denen sich auch Freundinnen und Schulkameradinnen von Marussja befanden – die Minajews, Gorbunows, Kassatkins, Saposchnikows –, von einem Boot aus in der Wolga ertränkt worden waren, da hatte Nikolai Grigorjewitsch ganz empört ausgerufen: »Ja, was soll denn eurer Ansicht nach mit den Feinden unserer Revolution geschehen, sollen wir sie etwa mit Pasteten füttern?« Warum sollte sie denn kein Recht auf Glück haben? Warum sollte sie sich denn quälen, einen Menschen bemitleiden, der selbst niemals Mitleid mit den Schwachen gezeigt hatte?
Doch im Innern ihres Herzens wusste sie bei all ihrer flammenden Empörung recht gut, dass sie unrecht hatte, dass Nikolai Grigorjewitsch so grausam doch nicht war.
Sie zog den warmen Rock aus, den sie auf dem Markt von Kuibyschew eingetauscht hatte, und schlüpfte in ihr Sommerkleid, das einzige, das den Brand von Stalingrad überdauert hatte, dasselbe, in dem sie mit Nowikow auf der Stalingrader Uferpromenade am Denkmal Cholsunows gestanden hatte.
Kurz vor Jennys
Weitere Kostenlose Bücher