Leben und Schicksal
Stalingrad abzurücken.
»Pjotr Pawlowitsch«, sagte Getmanow plötzlich, »als Sie vorhin in der Stadt waren, hatte ich eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Neudobnow.«
Er wälzte sich von der Sofalehne, schlürfte den Schaum von seinem Bier und fuhr fort: »Ich bin ein einfacher Mann, und ich sage es Ihnen geradeheraus – wir sprachen über die Genossin Schaposchnikowa. Ihr Bruder ist 1937 untergetaucht«, und Getmanow deutete mit dem Finger in Richtung Boden. »Offenbar kennt ihn Neudobnow aus jener Zeit, na ja, und ich kenne ihren ersten Mann, Krymow, der, wie man so sagt, nur durch ein Wunder überlebt hat. Er war in der Lektorengruppe des ZK. Na, und Neudobnow sagt nun: Muss sich denn Genosse Nowikow, dem das sowjetische Volk und der Genosse Stalin so großes Vertrauen entgegenbringen, privat ausgerechnet an einen Menschen binden, der aus einem sehr zweifelhaften sozialpolitischen Milieu kommt?«
»Ja was zum Teufel geht ihn denn mein Privatleben an«, fuhr Nowikow auf.
»Na eben«, erwiderte Getmanow. »Das sind alles Überbleibsel aus dem Jahr 1937; man muss diese Dinge heute großzügiger sehen. Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Neudobnow ist ein bedeutender Mann, rechtschaffen bis ins Mark, durch und durch Kommunist, Stalinist; aber er hat einen kleinen Fehler – er erkennt die Zeichen der Zeit nicht. Für ihn sind Klassikerzitate die Hauptsache. Was aber das Leben lehrt, das sieht er nicht immer. Manchmal scheint es, als wisse oder verstünde er nicht, in was für einem Staat er lebt, so sehr hat er sich mit Zitaten vollgestopft. Aber der Krieg lehrt uns, in mancher Hinsicht umzudenken. Generalleutnant Rokossowski, General Gorbatow, General Pultus, General Below – die haben alle gesessen, und doch hat sich Genosse Stalin entschlossen, ihnen hohe Kommandoposten anzuvertrauen. Mir hat heute Mitritsch – der Bekannte, den ich besucht habe – erzählt, wie sie Rokossowski direkt aus dem Lager zum Armeeführer befördert haben. Er stand gerade im Waschraum seiner Baracke und wusch seine Fußlappen, als sie ihn holten. Er war ganz ärgerlich, dass er die Fußlappen nicht fertigwaschen durfte, und am Vortag hatte ihn noch einer von der Lagerleitung verhört und ganz schön in die Zange genommen. Jetzt aber setzten sie ihn in eine ›Douglas‹, und ab in den Kreml. Daraus muss man doch seine Schlüsse ziehen. Aber unser Neudobnow ist eben ein Mann des Jahres 1937, den bringt man von seiner Position nicht mehr ab. Man weiß ja gar nicht, was dieser Bruder von Jewgenia Nikolajewna verbrochen hat; vielleicht würde ihn Genosse Berija heute auch freilassen und zum Armeeführer ernennen. Und Krymow ist Soldat, er kämpft mit, hat sein Parteibuch, also, was soll’s.«
Aber gerade diese letzten Worte brachten Nowikow besonders auf: »Ich pfeif drauf«, brüllte er und war selbst erstaunt, was seine Stimme hergab. »Was schert’s mich, ob Schaposchnikow ein Volksfeind war oder nicht. Ich habe ihn ja überhaupt nicht gekannt! Diesem Krymow soll Trotzki mal gesagt haben, sein Aufsatz sei ›monumental‹. Na und? Monumental, na wennschon! Und wenn er auch der Liebling von Trotzki, Rykow, Bucharin und Puschkin zugleich war – was hat denn das mit mir, mit meinem Leben zu tun? Ich habe seine monumentalen Artikel nicht gelesen. Und was hat es mit Jewgenia Nikolajewna zu tun, hat etwa sie bis 1937 in der Komintern gearbeitet? Ja, ja, da oben an der Spitze stehen, das könnt ihr, aber versucht doch mal, zu kämpfen, zu arbeiten, Genossen! Mir reicht’s, ihr Herrschaften. Es hängt mir langsam zum Hals heraus.«
Seine Wangen brannten, sein Herz schlug stürmisch, seine Gedanken waren klar und böse, aber in seinem Kopf war Nebel: »Gen-ia, Gen-ia, Gen-ia …«
Er wunderte sich über seine eigenen Worte. War das etwa er, der da zum ersten Mal in seinem Leben in Anwesenheit eines hohen Parteimannes ohne jede Furcht vom Leder zog? Er sah Getmanow an, und die Freude siegte über Reue und Angst.
Getmanow sprang plötzlich vom Sofa auf, fuchtelte mit seinen dicken Händen und sagte: »Komm an meine Brust, Pjotr Pawlowitsch, du bist ein richtiger Kerl.«
Etwas verlegen umarmte ihn Nowikow; sie küssten sich, und Getmanow schrie in den Gang hinaus: »Werschkow, bring Cognac, der Korpskommandeur und der Kommissar wollen Brüderschaft trinken.«
5
Als sie das Zimmer aufgeräumt hatte, dachte Jewgenia Nikolajewna befriedigt: »So, fertig«, als wäre mit der Ordnung im Zimmer, in dem das Bett nun wieder
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