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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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war beleidigt, weil Nowikow ihn nicht mit nach Kuibyschew genommen hatte. Schweigend legte er ihm einen Funkspruch aus dem Hauptquartier auf den Tisch – »Richtung Saratow, dann weiter auf der Astrachan-Linie.«
    General Neudobnow betrat das Abteil und sagte, den Blick nicht auf Nowikow, sondern auf das Telegramm gerichtet: »Bestätigung der Marschroute.«
    »Ja, Michail Petrowitsch«, nickte Nowikow, »aber nicht nur der Marschroute, sondern auch unseres Schicksals – Stalingrad«, und er fügte hinzu: »Generalleutnant Rjutin lässt Sie grüßen.«
    »A-a-a-«, grunzte Neudobnow, und es war nicht klar, ob dieses Grunzen dem Gruß des Generals oder Stalingrad galt.
    Er war ein seltsamer Mann, dieser Neudobnow; Nowikow war er immer etwas unheimlich: Was auch unterwegs passierte – eine Verzögerung wegen eines entgegenkommenden Zuges, ein defektes Lager an einem der Waggons, das Ausbleiben des Marschbefehls –, sogleich lebte Neudobnow auf und sagte: »Den Namen, den Namen notieren, vorsätzliche Sabotage, unbedingt einsperren, den Mistkerl.«
    Nowikow ließen die sogenannten Volksfeinde, Kulaken und Kulakenhelfer, im Grunde ziemlich kalt. Er verspürte keinen Hass auf sie und hatte nie den Wunsch, jemanden einsperren zu lassen, vor Gericht zu bringen oder auf einer Versammlung bloßzustellen. Diese gutmütige Gleichgültigkeit schob er auf sein unzulängliches politisches Bewusstsein.
    Neudobnow dagegen, so schien es Nowikow, begegnete grundsätzlich jedem Menschen mit Misstrauen, schien bei jeder neuen Bekanntschaft insgeheim zu fragen: »Na, ob du nicht vielleicht ein Feind bist, werter Genosse?« Noch tags zuvor hatte er Nowikow und Getmanow von den Architekten erzählt, die angeblich versucht hätten, aus den Hauptstraßen Moskaus Landebahnen für die feindliche Luftwaffe zu machen.
    »Das ist doch Quatsch«, hatte Nowikow dazu gemeint, »aus militärischer Sicht Unfug.«
    Jetzt aber hatte Neudobnow gegenüber Nowikow sein zweites Lieblingsthema angeschnitten – sein Privatleben. Er betastete die Heizrohre im Waggon und erzählte von der Dampfheizung, die er kurz vor Kriegsbeginn in seinem Landhaus eingebaut hatte.
    Nowikow zeigte unerwartetes Interesse für dieses Problem; er bat Neudobnow um eine Zeichnung und steckte sie in die Innentasche seines Militärhemdes.
    »Nach dem Krieg werde ich sie brauchen«, sagte er.
    Bald darauf kam Getmanow; er begrüßte Nowikow fröhlich und laut: »Ach, wir haben wieder einen Kommandeur; wir wollten schon einen neuen Anführer wählen, haben gedacht, Stenka Rasin hat seinen Haufen im Stich gelassen.«
    Er zwinkerte Nowikow gutmütig zu, und dieser lachte über den Scherz, wenngleich er innerlich, wie so oft bei Getmanows Scherzen, nicht sicher war, ob es wirklich so witzig gemeint war.
    Getmanow hatte die Eigenschaft, mit seinen Scherzen auf Dinge aus Nowikows Leben anzuspielen, die er eigentlich gar nicht wissen konnte. Gerade eben hatte er zum Beispiel fast genau Genias Worte beim Abschied wiederholt, obwohl das natürlich reiner Zufall war.
    Getmanow warf einen Blick auf die Uhr und sagte: »Also, meine Herren, jetzt bin ich an der Reihe mit dem Stadtgang. Hat jemand was dagegen?«
    »Nein, nein, gehen Sie nur, wir werden uns ohne Sie schon nicht langweilen«, sagte Nowikow.
    »Das glaube ich«, lachte Getmanow. »Sie, Genosse Korpskommandeur, langweilen sich ja in Kuibyschew wohl ohnehin nicht.«
    Und das war nun sicher kein Zufall mehr.
    In der Tür des Abteils stehend, fragte Getmanow noch: »Wie geht es Jewgenia Nikolajewna?«
    Sein Gesicht war diesmal ernst; nicht einmal seine Augen lachten.
    »Danke, gut. Sie arbeitet viel«, erwiderte Nowikow und wandte sich rasch an Neudobnow: »Michail Petrowitsch, haben Sie nicht auch Lust, auf ein Stündchen nach Kuibyschew zu fahren?«
    »Ach, was soll ich da?«, winkte Neudobnow ab.
    Sie setzten sich nebeneinander an den Tisch; Neudobnow erstattete Bericht, während Nowikow Papiere durchblätterte, beiseitelegte und von Zeit zu Zeit ungeduldig sagte: »Ja, ja, weiter …«
    Sein Leben lang hatte Nowikow Vorgesetzten Bericht erstattet, und die Vorgesetzten hatten währenddessen Papiere durchgeblättert und zerstreut gesagt: »Ja, ja, weiter …«, und immer hatte ihn das gekränkt, und er hatte geglaubt, dass er selbst so etwas nie tun würde …
    »Folgendes«, sagte er, »wir müssen jetzt schon bei der Reparaturabteilung einen Antrag für Ingenieure stellen; wir haben zwar Leute für das Fahrwerk, aber kaum welche

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