Leben und Schicksal
Rand mit Rauch, Schutt, Eisen und blutigen Verbänden zu füllen. Und diesem Tag würden ebensolche Tage folgen. Da war nichts mehr auf der Welt als diese vom Eisen aufgepflügte Erde, als der in Flammen stehende Himmel.
Krymow saß auf einer Kiste, hatte den Kopf gegen die steinerne Verkleidung des Stollens gelehnt und döste.
Er hörte die undeutlichen Stimmen der Stabsoffiziere, hörte das Klirren von Tassen – der Divisionskommissar und der Stabschef tranken Tee und unterhielten sich mit verschlafenen Stimmen. Sie sagten, dass sich der gefangengenommene Deutsche als Pionier entpuppt habe; sein Bataillon war vor einigen Tagen in Flugzeugen aus Magdeburg an die Front geworfen worden. In Krymows Gehirn tauchte eine Abbildung aus einem Schulbuch auf: Zwei schwere Lastgäule, von Treibern mit kegelförmigen Kappen angetrieben, versuchen, zwei Halbinseln auseinanderzureißen, die sich im Vakuum aneinander festgesaugt haben. Und das Gefühl von Langeweile, das diese Abbildung in seiner Kindheit in ihm hervorgerufen hatte, überkam ihn aufs Neue.
»Das ist gut«, sagte Welski, »das bedeutet, dass sie die Reserven angegriffen haben.«
»Ja, natürlich ist das gut«, stimmte Kommissar Wawilow zu, »der Divisionsstab geht zum Gegenangriff über.«
Da hörte Krymow die halblaute Stimme Rodimzews: »Wartet erst mal ab, das ist nur der Anfang.«
Es schien, als habe Krymow seine ganze seelische Kraft in diesem nächtlichen Kampf aufgebraucht. Um Rodimzew sehen zu können, hätte er den Kopf drehen müssen, doch Krymow drehte den Kopf nicht. »So leer fühlt sich wahrscheinlich ein Brunnen, aus dem man das ganze Wasser herausgeschöpft hat«, dachte er. Wieder döste er ein, und die halblauten Stimmen und die Detonationen wurden zu einem eintönigen Rauschen.
Doch da drang ein neues Bild in Krymows Gehirn; es war ihm, als sei er wieder ein Kind, läge in einem Zimmer mit geschlossenen Fensterläden und verfolge einen Fleck des Morgenlichts auf der Tapete. Der Fleck wanderte bis zur Kante des Wandspiegels und entfaltete sich zu einem Regenbogen. Das Herz des Jungen erbebte, und der Mann mit den grauen Schläfen und der schweren Pistole am Gürtel schlug die Augen auf und schaute sich um.
Mitten im Stollen stand, in der Soldatenbluse und die Feldmütze mit dem grünen Frontstern auf dem gesenkten Kopf, ein Musikant und spielte Geige.
Wawilow, der gesehen hatte, dass Krymow aufgewacht war, beugte sich zu ihm und sagte: »Das ist unser Friseur, Rubintschik, ein gro-o-ßer Meister!«
Manchmal unterbrach jemand rücksichtslos mit einem groben Scherz das Spiel, manchmal fragte jemand, den Musikanten übertönend: »Gestatten Sie, dass ich mich an Sie wende?«, und rapportierte dem Stabschef, dann wieder klapperte ein Löffel in einem Blechnapf, oder jemand gähnte lang anhaltend: »Ocho- cho-cho-cho …«, und begann, das Heu aufzuschütteln.
Der Friseur achtete sorgfältig darauf, dass sein Spiel die Offiziere nicht störte, und war bereit, jederzeit aufzuhören.
Doch warum trat Jan Kubelik, der in diesen Minuten in Krymows Erinnerung auftauchte, grauhaarig, im schwarzen Frack, nach einer Verbeugung vor dem Stabsfriseur ab? Warum brachte das dünne, zittrige Geigenstimmchen, das eine einfache Melodie sang, in diesen Minuten stärker als Bach und Mozart die ganze unermessliche Tiefe der menschlichen Seele zum Ausdruck?
Wieder, zum tausendsten Mal, verspürte Krymow den Schmerz der Einsamkeit. Genia hatte ihn verlassen …
Wieder dachte er mit Bitterkeit, dass Genias Abschied die ganze Mechanik seines Lebens aufgedeckt hatte; er war zurückgeblieben, doch es gab ihn nicht mehr. Und sie war fortgegangen.
Wieder dachte er, dass er sich selbst viel Schlimmes, erbarmungslos Grausames werde eingestehen müssen … Er konnte nicht ständig die Augen verschließen, Angst haben …
Es war ihm, als ließe ihn die Musik die Zeit verstehen.
Die Zeit ist ein gespenstisches Medium, in welchem Menschen entstehen, sich bewegen und spurlos verschwinden. In der Zeit entstehen und verschwinden ganze Städte. Die Zeit bringt sie und trägt sie dann wieder fort.
Doch in ihm erwachte ein anderes, ganz besonderes Verständnis für die Zeit. Es bedeutete: »Meine Zeit ist nicht unsere Zeit.«
Die Zeit rinnt in den Menschen und in ein Zarenreich, nistet sich in ihnen ein, und plötzlich verschwindet sie, doch Mensch und Reich bleiben; das Reich ist geblieben, doch seine Zeit ist vorüber, den Menschen gibt es, aber seine Zeit ist
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