Leben und Schicksal
unsagbar Quälendes, dass der Befehlshaber bei seinen Morgenspaziergängen stöhnte und fluchte.
Am Morgen teilte Jeremenko Sacharow seinen Entschluss mit, nach Stalingrad zu fahren, und befahl ihm, das Kommando zu übernehmen.
Er scherzte mit der Kellnerin, die das Tischtuch fürs Frühstück zubereitete, erlaubte dem Stellvertreter des Stabschefs, für zwei Tage nach Saratow zu fliegen, und gab der Bitte General Trufanows, des Befehlshabers einer der Steppenarmeen, nach, indem er ihm versprach, den mächtigen Artillerieknotenpunkt der Rumänen zu bombardieren. »Schon gut, schon gut, ich gebe dir die Langstreckenflugzeuge«, sagte er.
Die Adjutanten suchten zu erraten, was die gute Laune des Befehlshabers bewirkt haben mochte. Gute Nachrichten von Tschuikow? Ein erfreuliches Gespräch über das geheime Hochfrequenztelefon? Ein Brief von zu Hause?
Doch Nachrichten dieser Art blieben ja gewöhnlich den Adjutanten nicht verborgen: Moskau hatte den Befehlshaber nicht angerufen, und die Neuigkeiten von Tschuikow waren keineswegs erfreulich.
Nach dem Frühstück zog der Generaloberst seine wattierte Jacke an und begab sich auf seinen Spaziergang. Auf zehn Schritte Entfernung folgte ihm der Adjutant Parchomenko. Der Befehlshaber ging wie immer in gemächlichem Tempo; ein paarmal kratzte er sich am Schenkel und blickte zur Wolga hinüber.
Jeremenko begab sich zu den Soldaten des Arbeiterbataillons, die eine Grube ausschachteten. Es waren ältere Männer mit von der Sonne dunkelbraun gebrannten Nacken. Ihre Gesichter waren finster und missmutig. Sie arbeiteten schweigend und schauten verärgert auf den beleibten Mann mit der grünen Feldmütze, der müßig am Rande der Grube stand.
Jeremenko fragte: »Sagt mal, Leute, wer von euch arbeitet am schlechtesten von allen?«
Den Soldaten des Arbeiterbataillons kam die Frage gelegen, sie waren es leid, mit den Schaufeln zu hantieren. Die Soldaten schielten alle zusammen zu einem Kerl hinüber, der sich die Hosentasche umgekrempelt hatte und gerade Machorka-Mulm und Brotkrümel in die hohle Hand schüttete.
»Der da«, sagten zwei der Soldaten und blickten die übrigen fragend an.
»Aha«, meinte Jeremenko ernst, »also der da. Das ist also der Oberfaulpelz.«
Der Soldat seufzte mit Würde, schaute Jeremenko mit sanften, ernsten Augen von unten herauf an und mischte sich dann nicht weiter in das Gespräch ein, da er offenbar zum Schluss gekommen war, dass alle diese Fragen keinen praktischen Sinn hatten, sondern nur einfach so, wegen der Geschichte oder zur Vervollständigung der Bildung, gestellt wurden.
Jeremenko fragte: »Und wer von euch arbeitet am besten?«
Da deuteten alle auf einen grauhaarigen Mann; die schütteren Haare schützten seinen Kopf genauso wenig vor der Sonne, wie spärliches Gras die Erde vor den Sonnenstrahlen bewahrt.
»Troschnikow, der da«, sagte einer, »der strengt sich sehr an.«
»Der ist gewohnt zu arbeiten. Kann sonst nichts mit sich anfangen«, bestätigten die Übrigen, so als wollten sie sich für Troschnikow entschuldigen.
Jeremenko kramte in seiner Hosentasche, zog eine in der Sonne funkelnde goldene Uhr heraus und reichte sie, sich mühsam vorbeugend, Troschnikow hin.
Der schaute Jeremenko verständnislos an.
»Nimm sie, das ist eine Belohnung für dich«, sagte Jeremenko.
Den Blick immer noch auf Troschnikow gerichtet, fuhr er fort:
»Parchomenko, stell die Auszeichnungsurkunde aus!«
Er ging weiter und hörte hinter seinem Rücken die erregten Stimmen der Erdarbeiter; sie staunten und lachten über das ungeahnte Glück des arbeitsgewohnten Troschnikow.
Zwei Tage wartete der Befehlshaber der Front darauf, übergesetzt zu werden. Die Verbindung zum rechten Ufer war in diesen Tagen fast abgebrochen. Die Panzerboote, denen es gelang, sich zu Tschuikow durchzuschlagen, bekamen auf ihrem wenige Minuten dauernden Weg fünfzig bis siebzig Treffer ab und erreichten das Ufer nur unter schweren Verlusten.
Jeremenko ärgerte sich, regte sich auf.
Nicht die Bomben und Granaten fürchtete das 62 . Übersetzkommando, als es das deutsche Feuer hörte, sondern den Zorn des Befehlshabers. Für Jeremenko schienen die trägen Majore und unfähigen Hauptmänner schuld am Toben der deutschen Werfer, Kanonen und Kampfflugzeuge zu sein.
In der Nacht verließ Jeremenko den Bunker und stellte sich auf einen Sandhügel nahe am Wasser.
Die Kriegskarte, die sonst im Unterstand von Krasni Sad vor dem Befehlshaber der Front lag – hier dröhnte
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