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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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und rauchte sie, atmete Leben und Tod.
    Er glaubte die punktierte Feuerlinie des von seiner Hand eingezeichneten Frontverlaufs zu erkennen, die dicken Keile der Paulus’schen Vorstöße zur Wolga, die von ihm mit Farbstift markierten Widerstandsnester und Munitionslagerplätze. Doch wenn er die auf dem Tisch ausgebreitete Karte studierte, fühlte er sich dazu imstande, die Frontlinie zu biegen und zu verschieben; er konnte die schwere Artillerie am linken Ufer aufheulen lassen. Dort, über seiner Karte, fühlte er sich als Herr und Meister.
    Hier ergriff ihn ein völlig anderes Gefühl … Der Feuerschein über Stalingrad, der träge rollende Donner am Himmel – all das wirkte erschütternd durch seine gewaltige, vom Befehlshaber unabhängige Leidenschaft und Kraft.
    Durch den Gefechts- und Explosionsdonner hindurch klang von den Fabriken herüber kaum hörbar ein langgezogener Ton: »A-a-a-aa …«
    In diesem langgezogenen Schrei der zum Angriff schreitenden Stalingrader Infanterie schwang nicht nur etwas Bedrohliches, sondern auch Trauer und Schwermut mit.
    »A-a-a-a-a«, tönte es über die Wolga herüber … Das kriegerische »Hurra« verlor auf seinem Weg über das kalte, nächtliche Wasser, unter den Sternen des Herbsthimmels gleichsam die Hitze der Leidenschaft, verwandelte sich, und plötzlich enthüllte sich etwas völlig anderes in ihm – nicht Heftigkeit und nicht verwegene Angriffslust, sondern die Traurigkeit der Seele: Es war, als nähme man von allen seinen Lieben Abschied, als wollte man sie aus dem Schlaf wecken, um ein letztes Mal der Stimme des Vaters, des Mannes, des Bruders zu lauschen.
    Die Traurigkeit der Soldaten presste dem Generalobersten das Herz zusammen.
    Der Krieg, den er als Befehlshaber zu lenken gewohnt war, zog ihn plötzlich in sich hinein; er stand hier, auf dem Treibsand, ein einsamer Soldat, betäubt vom gewaltigen Ausmaß des Feuers und des Donners, stand am Ufer, wie alle hier gestanden hatten, Tausende und Abertausende von Soldaten, und fühlte, dass der Krieg des ganzen Volkes größer war als sein eigenes Wissen, seine Macht und sein Wille. Vielleicht war es dieses Gefühl, das General Jeremenko in diesem Augenblick zur höchsten Einsicht in das Wesen des Krieges verhalf.
    Gegen Morgen setzte er ans rechte Ufer über. Der telefonisch benachrichtigte Tschuikow kam ans Wasser und beobachtete die schnelle Fahrt des Panzerschiffs.
    Jeremenko ging langsam von Bord. Unter seinem Gewicht bog sich die ans Ufer ausgefahrene Gangway nach unten. Mit ungeschickten Schritten kam er über das steinige Ufer auf Tschuikow zu.
    »Guten Tag, Genosse Tschuikow«, sagte Jeremenko.
    »Guten Tag, Genosse Generaloberst«, erwiderte Tschuikow.
    »Ich bin gekommen, um nachzusehn, wie es euch hier geht. Du scheinst bei dem Ölbrand nichts abgekriegt zu haben. Hast immer noch so eine Mähne. Und nicht mal abgenommen hast du. Wir füttern dich doch nicht so schlecht.«
    »Wie soll ich denn abnehmen, ich sitze Tag und Nacht im Unterstand«, entgegnete Tschuikow, und da ihm die Bemerkung des Befehlshabers, dass man ihn nicht schlecht füttere, beleidigend erschien, fügte er hinzu: »Aber was tu ich denn da, ich empfange ja einen Gast am Ufer!«
    Und tatsächlich, Jeremenko ärgerte sich, weil Tschuikow ihn einen Gast in Stalingrad nannte. Als Tschuikow sagte: »Bitte, nur herein in meine Hütte«, erwiderte Jeremenko: »Mir gefällt’s auch hier, an der frischen Luft.«
    Da ertönte die Lautsprecheranlage vom jenseitigen Ufer der Wolga.
    Das Ufer – von Bränden, Leuchtkugeln und Explosionsblitzen erhellt – schien verödet. Hier verlosch ein Licht, dort flammte eines auf, zeigte sich sekundenlang als blendend weißer Blitz.
    Jeremenko betrachtete eingehend das von Laufgräben und Unterständen ausgehöhlte Steilufer, die längs des Wassers aufgetürmten Steinhaufen – sie traten aus dem Dunkel hervor und verloren sich dann leicht und schnell wieder darin.
    Eine gewaltige Stimme sang wuchtig und getragen:
    »Soll Wogen gleich der edle Zorn aufwallen,
    Es ist ein heil’ger Krieg, der Krieg von allen …«
    Und da weder am Ufer noch auf der Böschung Menschen zu sehen waren, da alles im Umkreis – Erde, Wolga, Himmel – von Flammen erleuchtet war, schien es, als sänge der Krieg selbst dieses getragene Lied, als sänge er es ohne die Menschen und wälzte die wuchtigen Worte an ihnen vorüber.
    Jeremenko empfand Unbehagen über die Art des Interesses, dass er für dieses Bild hatte. In der Tat,

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