Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
den Hörer aufgelegt hatte, beugte er sich zu Welski hinüber und sagte leise ein paar Worte. Der wollte nach dem Telefon greifen, doch Rodimzew legte die Hand auf den Apparat und sagte:
    »Wozu? Hören Sie denn nicht?«
    Vieles war zu hören in dem steinernen Gewölbe des Stollens, der von flackernden, rauchenden Lampen aus Geschosshülsen beleuchtet wurde. Feuerstöße ratterten schnell hintereinander über die Köpfe der Umsitzenden hinweg wie Karren über eine Brücke. Von Zeit zu Zeit spürte man Erschütterungen durch explodierende Handgranaten. Die Geräusche hallten im Stollen stark wider.
    Rodimzew rief mal den einen, mal den anderen Stabsangehörigen zu sich, und wieder hielt er den Hörer des ungeduldig klingelnden Telefons ans Ohr.
    Für einen Augenblick fing er Krymows Blick auf, der Berichterstatter saß in seiner Nähe; er lächelte ihm freundlich zu und sagte zu ihm:
    »Das Wolgawetter ist umgeschlagen, Genosse Berichterstatter.«
    Das Telefon läutete jetzt ohne Unterlass. Den Gesprächen Rodimzews lauschend, verstand Krymow ungefähr, was sich abspielte. Der Stellvertreter des Divisionskommandeurs, der junge Oberst Borissow, ging zum General, beugte sich über die Kiste, auf der der Plan von Stalingrad ausgebreitet lag, und zog mit energischer, eindrucksvoller Geste eine dicke blaue Linie entlang der Senkrechten, die die rote punktierte Linie der sowjetischen Verteidigung bis zur Wolga hin durchschnitt. Borissow sah Rodimzew mit seinen dunklen Augen bedeutungsvoll an. Plötzlich erhob sich Rodimzew, als er aus dem Halbdunkel einen Mann im Zeltumhang auf sich zukommen sah.
    An Gang und Gesichtsausdruck des Ankömmlings war sogleich zu erkennen, woher er kam – eine unsichtbare, heiße Wolke hüllte ihn ein. Bei schnellen Bewegungen schien nicht der Umhang zu rascheln, sondern die Elektrizität zu knistern, mit der dieser Mann aufgeladen war.
    »Genosse General«, rief er klagend, »er hat mich verjagt, der Hund, in die Schlucht hat er sich eingeschlichen, stößt zur Wolga vor. Ich brauche Verstärkung.«
    »Haltet den Gegner um jeden Preis auf. Reserven habe ich nicht«, sagte Rodimzew.
    »Um jeden Preis aufhalten«, antwortete der Mann im Umhang, und allen war klar, dass er, als er sich umwandte und zum Ausgang schritt, wusste, welchen Preis er zahlen würde.
    »Hier nebenan?«, fragte Krymow und deutete auf der Karte auf die gewundene Ader der Schlucht.
    Doch Rodimzew hatte keine Zeit mehr zu antworten. In der Röhrenöffnung waren Pistolenschüsse zu hören, flackerte rotes Wetterleuchten von Handgranaten.
    Man hörte einen durchdringenden Kommandopfiff. Der Stabsführer stürzte auf Rodimzew zu und schrie:
    »Genosse General, der Gegner ist in unseren Gefechtsstand eingedrungen!«
    Plötzlich war der Divisionskommandeur, der scheinbar so ruhig gesprochen und mit Buntstift die Lageveränderung auf der Karte eingetragen hatte, verschwunden. Verschwunden war auch der Eindruck, dass der Krieg in steinernen Ruinen und von hohem Gestrüpp überwucherten Schluchten mit Hilfe von Chromstahl, Kathodenlampen und Funkausrüstung geführt würde. Der Mann mit den schmalen Lippen schrie wild:
    »Auf, Genossen vom Divisionsstab! Vertraut den Handwaffen! Greift zu den Granaten und mir nach, wir schlagen den Feind zurück!«
    Seine Stimme und seine Augen, die mit einem raschen, gebieterischen Blick über Krymow hinwegglitten, waren erfüllt von eisig brennendem Kampfgeist. Einen Augenblick lang schien es, als läge die Stärke dieses Mannes nicht in seiner Erfahrung und seiner Kartenkenntnis, sondern in seiner grausamen, ungezügelten, wilden Seele.
    Ein paar Minuten später stürzten die Stabsoffiziere, Schreiber, Melder und Telefonisten, sich gegenseitig unbeholfen und hastig hinausschiebend, aus dem Stollen; allen voran lief mit leichtem Schritt, vom Schein des flackernden Gefechtsfeuers erhellt, Rodimzew und wandte sich der Schlucht zu, aus der Detonationen, Schüsse, Schreie und Flüche zu hören waren.
    Krymow gelangte, atemlos vom Lauf, als einer der Ersten an den Rand der Schlucht. Als er hinuntersah, empfand er Ekel, Angst und Hass zugleich. Auf dem Grund der Kluft huschten verschwommene Schatten, flammten Mündungsblitze auf und verloschen wieder, glühten grüne und rote Lichter auf, und die Luft war erfüllt vom ununterbrochenen metallischen Pfeifen der Geschosse. Krymow war, als blicke er in eine riesige Schlangengrube, in der Hunderte aufgestörter giftiger Wesen, zischend und mit den Augen

Weitere Kostenlose Bücher