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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Eichmanns zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Neid.
    Ein paar Minuten vor seiner Abfahrt sagte Eichmann nachdenklich: »Wir kommen ja aus derselben Stadt, Liss.«
    Sie begannen, vertraute Straßennamen, Kinos und Restaurants aufzuzählen.
    »An einem gewissen Ort war ich natürlich nie«, sagte Eichmann und nannte einen Klub, zu dem die Söhne von Handwerkern keinen Zutritt hatten.
    Liss fragte, rasch das Thema wechselnd: »Sagen Sie, können Sie mir nicht eine ungefähre Vorstellung geben, um was für eine Menge von Juden es geht?«
    Er wusste, dass ihm diese Frage nicht zustand; nur etwa drei Menschen auf der Welt, außer Himmler und dem Führer, konnten sie beantworten.
    Doch nach diesen für Eichmann schmerzlichen Jugenderinnerungen an die Zeiten der Demokratie und des Kosmopolitismus wollte er eine Frage stellen, die seine eigene Unterlegenheit deutlich machte.
    Eichmann antwortete.
    Erschüttert fragte Liss: »Millionen?«
    Eichmann zuckte die Schultern.
    Eine Weile schwiegen sie.
    »Ich bedaure sehr, dass wir uns in der Studentenzeit nicht begegnet sind«, sagte Liss, »in den Lehrjahren, wie es bei Goethe heißt.«
    »Da gibt’s nichts zu bedauern. Ich war kein Berliner Student, ich habe in der Provinz gelernt«, erwiderte Eichmann und fügte hinzu: »Diese Zahl, Landsmann, habe ich hier zum ersten Mal ausgesprochen. Zählt man Berchtesgaden, die Reichskanzlei und das Führerhauptquartier mit, dann ist sie vielleicht insgesamt sieben- oder achtmal ausgesprochen worden.«
    »Ich verstehe, sie wird nicht morgen in der Zeitung stehen.«
    »Eben an die Zeitung denke ich dabei«, sagte Eichmann.
    Er schaute Liss spöttisch an, und dieser hatte das beunruhigende Gefühl, sein Gesprächspartner sei klüger als er.
    Eichmann fuhr fort: »Abgesehen von unserem kleinen Heimatstädtchen, das so hübsch im Grünen liegt, gibt es noch einen anderen Grund dafür, dass ich Ihnen diese Zahl genannt habe. Ich möchte, dass sie uns für unsere weitere gemeinsame Arbeit verbindet.«
    »Vielen Dank«, sagte Liss. »Das ist eine sehr ernste Sache, über die ich nachdenken werde.«
    »Natürlich kommt die Idee nicht nur von mir.« Eichmann deutete mit dem Finger senkrecht nach oben. »Wenn wir uns die Arbeit teilen und Hitler verliert, dann hängen wir beide, Sie und ich.«
    »Reizende Aussichten«, sagte Liss.
    »Stellen Sie sich vor, in zwei Jahren sitzen wir wieder gemütlich hier am Tisch und können sagen: ›In zwanzig Monaten haben wir ein Problem gelöst, das die Menschheit in zwanzig Jahrhunderten nicht lösen konnte!‹«
    Sie verabschiedeten sich. Liss schaute dem Wagen nach.
    Er hatte seine eigene Ansicht über das Miteinander der Menschen im Staat. Im nationalsozialistischen Staat durfte sich das Leben nicht frei entfalten, jeder Schritt musste gesteuert werden.
    Um aber jeden Atemzug der Menschen, auch das Muttergefühl, auch den Lesezirkel, die Fabriken, den Gesang, die Armee und die Sommerausflüge steuern zu können, brauchte man Führer. Das Leben hatte ja hier kein Recht zu wachsen wie das Gras, zu wogen wie das Meer. Die Führer, so schien es Liss, rekrutierten sich aus vier Hauptcharaktergruppen.
    Die erste Kategorie waren die geschlossenen Charaktere, meist ohne große geistige Gaben oder analytische Fähigkeiten. Diese Menschen suchten sich ihr geistiges Rüstzeug aus Zeitungen und Zeitschriften, Hitler- und Goebbelszitaten und aus Büchern von Frank und Rosenberg zusammen. Sie brauchten eine Stütze, einen Rückhalt und zerbrachen sich nicht den Kopf über den Zusammenhang der Dinge. Sie waren grausam und ungeduldig, und sie nahmen alles ernst – Philosophie, nationalsozialistische Wissenschaft, nebulöse Offenbarungen, das neue Theater, die neue Musik und den Reichstagswahlkampf. Wie Schüler paukten sie in Zirkeln »Mein Kampf«, entwarfen Vorträge und Broschüren. Gewöhnlich waren sie persönlich anspruchslos, litten nicht selten sogar regelrechte Not und gerieten häufiger als die übrigen Kategorien in Mobilisierungskampagnen der Partei, die sie ihren Familien entrissen. Zu dieser ersten Kategorie gehörte nach Liss’ Ansicht auch Eichmann.
    Die zweite Kategorie waren die gescheiten Zyniker. Sie wussten von dem Zauberstab. Im Freundeskreis machten sie sich über vieles lustig – über die Ignoranz der neuen Doktoren und Professoren, über die Fehler und das Benehmen der Leiter und Gauleiter. Nur über den Führer und die hohen Ideale lachten sie nicht. Diese Leute lebten gewöhnlich auf

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