Leben und Schicksal
vor.
In dunklen Nächten unter herbstlichem Wolken- und Sternenhimmel setzten Dampfer, Fähren und Schlepper ans rechte, kalmückische Ufer südlich von Stalingrad über – sie beförderten das Panzerkorps Nowikows. Tausende von Menschen sahen die Namen der russischen Militärführer in weißen Lettern auf den Panzern leuchten – »Kutusow«, »Suworow«, »Alexander Newski«.
Millionen Menschen beobachteten den Vormarsch schwerer russischer Kanonen, Granatwerfer und im Leih-Pacht-Verfahren erworbener Kolonnen von »Dodge«- und »Ford«-Lastwagen in Richtung Stalingrad.
Doch obwohl diese Truppenbewegung, diese Konzentration gewaltiger Kriegsmassen für den Angriff auf Stalingrad von Nordwesten und von Süden her von Millionen beobachtet wurde, blieb sie geheim.
Wie war das möglich? Schließlich wussten auch die Deutschen von dieser gewaltigen Bewegung. Sie war ebenso wenig geheim zu halten wie der Steppenwind.
Die Deutschen wussten von der Truppenbewegung, und dennoch blieb die bevorstehende Stalingrad-Offensive für sie ein Geheimnis. Ein Blick auf die Karte, wo die vermuteten russischen Truppenansammlungen markiert waren, hätte genügt, um jedem deutschen Leutnant das bestgehütete militärische Staatsgeheimnis der Sowjetunion zu enthüllen, ein Geheimnis, das nur Stalin, Schukow und Wassilewski kannten. Und doch wurden die deutschen Leutnants und Feldmarschälle von der Einkesselung ihrer Armee im Raum Stalingrad überrascht.
Wie war das möglich?
Stalingrad hielt sich immer noch; nach wie vor brachten die deutschen Angriffe nicht die entscheidenden Erfolge, obwohl gewaltige Militärpotenziale daran beteiligt waren. Die ausgebluteten sowjetischen Stalingrad-Regimenter verfügten nur noch über ein paar Dutzend Rotarmisten; und ebendiese paar Dutzend, die die ganze Wucht der gegnerischen Übermacht in furchtbaren Kämpfen auffangen mussten, sie waren es, die die Berechnungen der Deutschen über den Haufen warfen.
Der Gegner konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine gewaltigen Anstrengungen an einer Handvoll Menschen scheitern könnten. Er vermutete daher, dass die sowjetischen Truppenbewegungen der Verstärkung und Versorgung der Stalingrad-Verteidiger galten. So kam es, dass die Soldaten, die an der Uferböschung der Wolga dem Druck der Paulus’schen Divisionen standhielten, der eigentliche Stratege der sowjetischen Stalingrad-Offensive waren.
Doch die Ironie der Geschichte ging noch tiefer: Durch die Berührung mit ihren arglistigen Fingern verwandelte sich die Freiheit, Mutter des Sieges, die Zweck des Krieges war, auch in sein Mittel.
34
Eine alte Frau mit missmutigem, vergrämtem Gesicht näherte sich mit einem Armvoll trockenen Schilfs ihrem Haus. Mit steifen, müden Bewegungen schlurfte sie an dem verstaubten »Willis«-Jeep und an dem mit einer Plane bedeckten Stabspanzer vorbei, der mit einer Seite die Holzwand ihres Hauses zu stützen schien. Es war, als könne es nichts Uninteressanteres, nichts Alltäglicheres auf Erden geben als diese Alte, die an dem Panzer vorbeischlurfte, der ihr Haus stützte. Und doch gab es nichts Bedeutungsvolleres als das, was diese Frau, ihre hässliche Tochter, die gerade unter dem Vordach die Kuh molk, und den blonden Enkel, der, mit dem Finger in der Nase bohrend, zusah, wie die Milch aus dem Euter spritzte, mit den in der Steppe stationierten Truppen verband.
Alle diese Menschen – Majore aus den Korps- und Armeestäben, zigarettenrauchende Generäle unter dunklen bäuerlichen Ikonen, Generalsköche, die in russischen Öfen Hammel brieten, Telefonistinnen, die sich mit Patronen und Nägeln in der Scheune Locken drehten, der Fahrer, der sich im Hof vor einer Blechschüssel rasierte, mit einem Auge in den Spiegel und mit dem anderen zum Himmel hinaufschielend, ob sich kein deutsches Flugzeug näherte – sie alle und mit ihnen die ganze Stahl-, Elektro- und Benzinwelt des Krieges waren ein stetiges Element im langen Leben der Dörfer, Siedlungen und Steppengehöfte.
Für die Alte bestand ein durchgehender Zusammenhang zwischen den Jungs, die jetzt auf den Panzern saßen, und den traurigen Gestalten, die im Sommer zu Fuß herangestolpert waren, um ein Nachtquartier gebettelt hatten und denen die ständige Angst vor feindlichen Verfolgern den Schlaf geraubt hatte.
Eine durchgehende Beziehung bestand auch zwischen dieser Alten von dem Gehöft in der Kalmückensteppe und jener, die im Ural den summenden Kupfersamowar in den Stab des Reservepanzerkorps
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