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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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oberste Chef, so gemessen waren seine Bewegungen.
    Seiner Konstitution nach hätte er ein gutmütiger Mann sein müssen, der gerne aß und trank, aber das täuschte. Er war im Gegenteil wortkarg, kalt, misstrauisch und pedantisch. Gastfreundschaft kannte er nicht, und er galt als geizig.
    Getmanow lobte die Sorgfalt, mit der die Stellungen ausgehoben und die Deckungen für Panzer und Waffen vorbereitet worden waren.
    An alles hatte der Brigadekommandeur gedacht – an die Stoßrichtung eines möglichen feindlichen Panzerangriffs, an die Möglichkeiten eines Drucks auf die Flanke; nur eines hatte er nicht bedacht, dass nämlich die bevorstehenden Kämpfe ihn zwingen könnten, seine Brigade rasch durch die durchbrochenen feindlichen Linien hinter dem Gegner herzuhetzen.
    Nowikow ärgerte sich über das beifällige Kopfnicken und die Lobessprüche Getmanows.
    Karpow aber steigerte Nowikows Zorn noch, als er, wie um ihn absichtlich zu ärgern, sagte: »Gestatten Sie zu erzählen, Genosse Oberst: Bei Odessa hatten wir uns damals auch prächtig verschanzt. Abends sind wir zum Gegenangriff angetreten, haben den Rumänen eins über die Birne gegeben, und nachts ist unsere gesamte Verteidigung auf Befehl des Kommandeurs wie ein Mann in den Hafen abgezogen und hat sich eingeschifft. Als sich’s die Rumänen um zehn Uhr früh überlegt hatten und die aufgegebenen Verteidigungsstellungen angriffen, fuhren wir schon übers Schwarze Meer.«
    »Aber hier werdet ihr nicht vor leeren rumänischen Schanzen zu stehen kommen«, sagte Nowikow bissig und fragte sich gleichzeitig, ob Karpow das Zeug dazu hätte, bei einem Angriff Tag und Nacht vorzurücken, das kriegstaugliche gegnerische Material und die Widerstandsnester des Feindes links liegenzulassen und Kopf und Flanken feindlichem Beschuss auszusetzen, einzig getrieben von dem Wunsch, dem Gegner nachzujagen.
    »Nein, dafür ist der nicht geschaffen«, beantwortete er sich selbst die Frage.
    Alles ringsum trug die Spuren der vorangegangenen Hitze, und es war seltsam, dass die Luft so kühl war. Die Panzerbesatzungen gingen verschiedenen Beschäftigungen nach – der eine rasierte sich auf dem Panzer, den Spiegel an den Turm gelehnt; ein anderer putzte eine Waffe; ein Dritter schrieb einen Brief; daneben spielte man Karten auf einer Zeltplane, und eine größere Gruppe stand gähnend um eine junge Sanitäterin herum. Dieses friedliche Bild unter dem gewaltigen Himmel auf der gewaltigen Erde war von abendlicher Schwermut erfüllt.
    In diesem Augenblick kam der Bataillonskommandeur, im Laufen das Militärhemd überziehend, auf die sich nähernden Befehlshaber zugerannt und schrie schon von weitem: »Bataillon, stillgestanden!«
    Doch Nowikow winkte ab und sagte: »Rührt euch, rührt euch!«
    Wo immer der Kommissar, jeweils ein paar Worte fallenlassend, vorüberkam, hörte man Lachen. Die Soldaten wechselten Blicke, und ihre Gesichter hellten sich auf. Der Kommissar fragte, wie sie denn die Trennung von den Mädchen im Ural überlebt hätten, ob sie viel Papier für Briefe brauchten und ob sie in der Steppe auch den »Roten Stern« bekämen. Dann ging er plötzlich auf den Intendanten los: »Was haben die Panzerbesatzungen heute zu essen bekommen? Und gestern? Und vorgestern? Und du, hast du auch drei Tage lang Suppe aus Graupen und grünen Tomaten gegessen? Man soll den Koch rufen«, befahl er unter dem Gelächter der Soldaten, »der soll uns sagen, was er dem Intendanten gekocht hat.«
    Es schien, als wollte er mit seinen Fragen über alltägliche Dinge den Truppenkommandeuren den stummen Vorwurf machen: »Ihr immer mit eurer Technik.«
    Der Intendant, ein magerer Mann mit staubigen Gummistiefeln und roten Händen wie von einer Wäscherin, die Wäsche in kaltem Wasser gespült hat, stand hüstelnd vor Getmanow.
    Nowikow, dem er leidtat, sagte: »Genosse Kommissar, fahren wir von hier aus zusammen zu Below?«
    Getmanow hielt sich seit der Vorkriegszeit mit Recht für einen guten Massenagitator und Anführer. Kaum begann er ein Gespräch, fingen die Leute an zu lachen; seine einfache, lebhafte Ausdrucksweise, die deftigen Ausdrücke fegten sofort alle Rangunterschiede zwischen dem Sekretär des Gebietskomitees und dem einfachen Mann im Arbeitskittel beiseite.
    Stets schnitt er Fragen des täglichen Lebens an – ob der Lohn auch pünktlich eintraf, ob es Mangelware in den Dorfläden und Arbeiterkonsumgenossenschaften gab, ob die Wohnheime gut geheizt waren, ob die Küche in den

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