Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
leid. Der Gedanke ans Essen störte die anderen Gedanken.
    Am Morgen kam sie in die Fabrik und traf am Pförtnerhäuschen die Sekretärin des Direktors, eine ältere Frau mit männlichem, mürrischem Gesicht.
    »Genossin Schaposchnikowa, kommen Sie in der Mittagspause zu mir«, sagte die Sekretärin.
    Alexandra Wladimirowna war verwundert: Ob der Direktor so schnell ihre Bitte erfüllt hatte? Sie verstand nicht, warum ihr plötzlich so leicht ums Herz wurde.
    Sie ging durch den Fabrikhof, und plötzlich kam ihr ein Gedanke, den sie laut aussprach: »Schluss mit Kasan, ich fahre nach Hause, nach Stalingrad!«
    32
    Der Chef der Feldgendarmerie Halb hatte den Kompanieführer Lehnard in den Stab der 6. Armee beordert.
    Lehnard hatte sich verspätet. Der neue Befehl von Paulus verbot es, Benzin für Pkws zu verwenden. Über die gesamten Spritvorräte verfügte der Armeestabschef General Schmidt, und man hätte zehn Tode sterben können, ohne eine Erlaubnis des Generals für fünf Liter Sprit zu bekommen. Jetzt reichte das Benzin nicht nur nicht für die Feuerzeuge der Soldaten, sondern auch nicht für die Pkws der Offiziere.
    Bis zum Abend musste Lehnard auf einen Stabswagen warten, der mit der Kurierpost in die Stadt fuhr.
    Der kleine Wagen rollte über die vereiste Asphaltstraße. Über den Unterständen und Wohnbunkern der vordersten Linie stiegen durchsichtige, dünne Rauchwolken in die windstille, frostige Luft auf. Auf dem Fahrdamm in Richtung Stadt gingen verwundete Soldaten, ihre Köpfe waren mit Schals und Handtüchern verbunden. In der anderen Richtung marschierten Soldaten, die von der Armeeführung aus der Stadt in die Fabriken geschickt worden waren; auch deren Köpfe waren verbunden und die Füße mit Lappen umwickelt.
    Der Fahrer stoppte den Wagen am Straßenrand neben dem Kadaver eines Pferdes und begann, am Motor zu hantieren. Lehnard musterte die unrasierten, bekümmerten Gesichter der Männer, die mit Bajonetten das gefrorene Fleisch heraushackten. Einer der Soldaten war zwischen die abgeschälten Rippen des Pferdes gekrochen und wirkte wie ein Zimmermann, der in einem halbfertigen Dachstuhl arbeitete. Daneben brannte in den Trümmern eines Hauses ein Feuer, über dem an einem Dreifuß ein schwarzer Kessel hing, ringsum standen Soldaten in Helmen, Feldmützen, Bettdecken, Schals, bewaffnet mit Maschinenpistolen und Handgranaten am Gürtel. Der Koch drückte mit einem Bajonett Stücke von Pferdefleisch, die aus dem Wasser herausragten, wieder zurück. Ein Soldat auf dem Dach eines Unterstandes knabberte gemächlich einen Pferdeknochen ab, der einer zyklopischen Mundharmonika glich.
    Und plötzlich beleuchtete die untergehende Sonne die Straße, das tote Haus. Die ausgebrannten Augenhöhlen der Häuser füllten sich mit eisigem Blut, der vom Kriegsruß verschmutzte, von Minenkrallen aufgerissene Schnee erglänzte golden, die dunkelrote Höhle im Innern des Pferdekadavers leuchtete, und von der Schneewehe auf der Straße wirbelten stachelige, bronzefarbene Flocken auf.
    Das abendliche Licht besitzt die Eigenschaft, den Kern des Geschehens aufzudecken und den visuellen Eindruck in ein Bild zu verwandeln – in eine Geschichte, in ein Gefühl, in ein Schicksal. Die Schmutz- und Rußflecken in dieser untergehenden Sonne sprachen mit Hunderten von Stimmen, das Herz zog sich zusammen, und man sah das verlorene Glück, die Unwiederbringlichkeit der Verluste, die Bitterkeit der Fehler und die ewige Schönheit der Hoffnung.
    Es war ein Bild wie aus Urzeiten. Die Grenadiere, der Stolz der Nation, die Erbauer Großdeutschlands, waren vom Siegespfad gestoßen worden.
    Als er diese in Lumpen gehüllten Männer betrachtete, erkannte Lehnard mit dem Feingefühl des Dichters: Da ging die Sonne unter, verlosch, und mit ihr ein Traum.
    Was für eine dumpfe, schwere Kraft musste auf dem Grund des Lebens ruhen, wenn die glänzende Energie Hitlers und die machtvolle Stärke eines furchtgebietenden, beflügelten Volkes, das die fortschrittlichste Theorie besaß, zum stillen Ufer der zugefrorenen Wolga geführt hatten, zu diesen Trümmern und diesem schmutzigen Schnee, zu den vom Blut des Sonnenuntergangs erfüllten Fenstern, zu der demütigen Sanftheit dieser Wesen, die in den Rauch über dem Feuer starrten, auf dem das Pferdefleisch gekocht wurde …
    33
    Im Stab von Paulus, der sich im Keller des abgebrannten Gebäudes des Warenhauses »Uniwermag« befand, hatte alles seine Ordnung: Die Vorgesetzten kamen in ihre

Weitere Kostenlose Bücher