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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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war an der Front; sie blieb mit sechs hungrigen Kindern zurück, und für alle sechs hatte sie nur ein Paar zerfetzte Filzstiefel. Die Ärztin erzählte Alexandra Wladimirowna, dass sie eine Ziege gekauft habe und nachts durch den tiefen Schnee zu einem weitab gelegenen Feld gestapft sei, um Buchweizen zu stehlen. Sie habe die nicht abgeernteten, verfaulten Schober aus dem Schnee gegraben. Ihre Kinder hätten sich im Dorf grobe Redensarten angeeignet und fluchten wüst. Die Lehrerin in der Kasaner Schule habe gesagt: »Ich erlebe zum ersten Mal, dass Erstklässler wie betrunkene Bauern fluchen, noch dazu Kinder aus Leningrad.«
    Jetzt wohnte Alexandra Wladimirowna in dem kleinen Zimmer, in dem damals Viktor Pawlowitsch gewohnt hatte. Im großen Durchgangszimmer hatten sich die Hauptmieter der Wohnung einquartiert, die vor der Abreise der Familie Strum im Anbau gewohnt hatten. Es waren unruhige Leute, die sich oft aus nichtigem Anlass stritten.
    Alexandra Wladimirowna ärgerte sich über sie, aber nicht wegen der Streitigkeiten oder des Lärms, sondern weil sie von ihr, der Ausgebombten, sehr viel Geld für die kleine Kammer verlangten – zweihundert Rubel im Monat, mehr als ein Drittel ihres Gehalts. Sie hatte das Gefühl, die Herzen dieser Menschen seien aus Sperrholz oder Blech. Von morgens bis abends sprachen sie von Pflanzenöl, Pökelfleisch, Kartoffeln, Trödel, der am Flohmarkt feilgeboten und gekauft wurde. Nachts unterhielten sie sich flüsternd. Nina Matwejewna, die Wirtin, erzählte ihrem Mann, dass der Nachbar, ein Fabrikvorarbeiter, einen Sack weißer Sonnenblumenkerne und einen halben Sack Mais vom Land mitgebracht habe und dass heute auf dem Markt billiger Honig angeboten worden sei.
    Nina Matwejewna war eine schöne Frau, groß, stattlich, grauäugig. Vor ihrer Ehe arbeitete sie in der Fabrik, war im Laienkunstzirkel – sie sang im Chor, spielte im Volkstheater. Semjon Iwanowitsch arbeitete im Munitionswerk, er war Schmied. Den Militärdienst hatte er in seiner Jugend auf einem Zerstörer absolviert und war Halbschwergewichtsmeister der Pazifischen Flotte gewesen. Jetzt erschien diese Vergangenheit der Hauptmieter unvorstellbar – Semjon Iwanowitsch fütterte morgens vor der Arbeit die Enten, kochte eine Suppe für das Ferkel, nach der Arbeit wirtschaftete er in der Küche, sortierte Hirsegraupen, flickte Schuhe, schliff Messer, spülte Pfandflaschen, erzählte von den Lkw-Fahrern in der Fabrik, die aus weitentfernten Kolchosen Mehl, Eier, Ziegenfleisch und andere Lebensmittel mitbrachten … Nina Matwejewna unterbrach ihn, redete von ihren unzähligen Krankheiten, von den Honoraren der medizinischen Kapazitäten, die sie häufig aufsuchte, erzählte von einem Handtuch, das sie gegen weiße Bohnen getauscht hatte, von einer Nachbarin, die einer evakuierten Frau eine Jacke aus Fohlenfell und fünf Untertassen aus einem Service abgekauft hatte, von Schweineschmalz und kombiniertem Fett.
    Es waren keine bösen Menschen, aber sie sprachen Alexandra Wladimirowna kein einziges Mal auf den Krieg, Stalingrad oder die Mitteilungen des Sowinformbüros an.
    Sie bemitleideten und verachteten Alexandra Wladimirowna, weil sie nach der Abreise ihrer Tochter, die eine Sonderzuweisung für Akademiemitglieder bekommen hatte, hungern musste. Sie hatte keinen Zucker, keine Butter, trank kochendes Wasser statt Tee und aß die Suppe aus der Kantine, die nicht einmal das Ferkel fressen wollte. Sie hatte nicht genug Geld, um sich Brennholz zu kaufen, sie besaß keine Sachen, die sie hätte verkaufen können. Ihre Armut störte die Wirte. Eines Abends hörte Alexandra Wladimirowna, wie Nina Matwejewna zu Semjon Iwanowitsch sagte: »Ich musste der Alten gestern eine Semmel geben. Es ist mir unangenehm, zu essen, während sie hungrig dabeisitzt und zuschaut.«
    Nachts schlief Alexandra Wladimirowna schlecht. Warum kamen keine Nachrichten von Serjoscha? Sie lag in dem eisernen Bett, in dem früher Ljudmila geschlafen hatte, die nächtlichen Vorahnungen und Gedanken ihrer Tochter hatten wohl auf sie übergegriffen.
    Wie leicht der Tod die Menschen vernichtete. Und wie schwer hatten es jene, die am Leben geblieben waren. Sie dachte an Vera. Der Vater ihres Kindes war entweder tot oder hatte sie vergessen; Stepan Fjodorowitsch war schwermütig, von seinen Problemen überlastet; Verluste und Kummer hatten Ljudmila und Viktor nicht vereinen, einander nicht näherbringen können.
    Am Abend schrieb Alexandra Wladimirowna einen Brief

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