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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Arbeitszimmer, die Diensthabenden berichteten ihnen über die Veränderungen der Lage, über die Aktivitäten des Gegners, über eingetroffene Unterlagen.
    Telefone klingelten, Schreibmaschinen klapperten, und hinter einer dünnen Furnierholztür war das tiefe Gelächter von General Schenk zu hören, dem Leiter der taktischen Abteilung. Wie immer knirschten die Stiefel der Adjutanten auf den Steinfliesen, wie immer haftete im Flur, wenn der Kommandeur der Panzereinheiten, mit dem Monokel blitzend, in sein Arbeitszimmer gegangen war, der Duft französischen Rasierwassers, der sich mit dem Geruch nach Feuchtigkeit, Tabak und Schuhwichse vermischte und doch unverkennbar blieb. Wie immer verstummten plötzlich die Stimmen und das Geklapper der Schreibmaschinen, wenn der Oberbefehlshaber in seinem langen Mantel mit Pelzkragen durch die engen Gänge der unterirdischen Kanzlei schritt, und zig Augen musterten sein nachdenkliches Gesicht mit der Adlernase. Ebenso geregelt war Paulus’ Tagesablauf, er brauchte immer dieselbe Zeit für seine Nachmittagszigarre und für die Unterredung mit dem Armeestabschef General Schmidt. Wie immer ging der Funker, ein Unteroffizier, mit plebejischer Hochnäsigkeit, Vorschriften und Ordnung missachtend, an Oberst Adams vorbei, der die Augen niederschlug, schnurstracks zu Paulus; er überbrachte ein Telegramm Hitlers mit dem Vermerk »Persönlich«.
    Aber nur äußerlich schien sich nichts verändert zu haben – das Leben der Stabsangehörigen hatte seit dem Tag der Einkesselung zahllose Veränderungen erfahren.
    Veränderungen gab es in der Farbe des Kaffees, den sie tranken, in den Fernmeldelinien, die zu den neuen westlichen Frontabschnitten führten, in den neuen Munitionsverbrauchsnormen, im täglichen grausamen Schauspiel der brennenden und explodierenden »Junkers«-Transportflugzeuge, die den Luftring zu durchbrechen versuchten. Ein neuer Name war aufgetaucht, der alle anderen Namen in den Köpfen der Militärs verdrängte – der Name Manstein.
    Es wäre sinnlos, alle Veränderungen aufzuzählen. Auch ohne dieses Buch liegen sie auf der Hand: Wer sich früher immer satt gegessen hatte, spürte ständig Hunger; die Gesichter der Hungernden und Halbsatten hatten sich verändert und den Farbton der Erde angenommen. Die deutschen Stabsangehörigen hatten sich auch innerlich verändert: Die Hochnäsigen und Hochmütigen waren still geworden; die Prahler hatten aufgehört zu prahlen, die Optimisten hatten begonnen, auf den Führer zu schimpfen und an der Richtigkeit seiner Politik zu zweifeln.
    Es setzten aber auch besondere Veränderungen in den Köpfen und Seelen jener Deutschen ein, die von der Unmenschlichkeit des Nationalstaates gebannt und verzaubert waren. Diese Veränderungen geschahen nicht nur auf dem Grund, sondern auch im Untergrund ihres Lebens, deshalb wurden sie von den Menschen nicht sofort bemerkt und begriffen.
    Diesen Prozess zu erspüren war genauso schwer, wie das Wirken der Zeit zu empfinden. In den Qualen des Hungers, in der nächtlichen Angst, in der Ahnung des herannahenden Unheils bahnte sich langsam und allmählich die Befreiung der Freiheit im Menschen an, seine Wiedermenschwerdung, der Sieg des Lebendigen über das Abgestorbene.
    Die Dezembertage wurden immer kürzer und die eisigen Nächte immer länger. Immer enger zog sich der Ring zusammen, immer böser wurde das Feuer der sowjetischen Maschinengewehre und Geschütze … Oh, wie erbarmungslos war der russische Steppenfrost, unerträglich sogar für die an ihn gewöhnten, mit Fellmänteln und Filzstiefeln bekleideten Russen.
    Der grimmige Frost bildete einen Abgrund über den Köpfen, war von unbezähmbarer Erbitterung. Die trockenen, gefrorenen Sterne klebten wie zinngrauer Raureif am Himmel, den die Kälte umklammert hielt.
    Wer von den Dahinsiechenden und Todgeweihten hätte verstehen können, dass dies die ersten Stunden der Vermenschlichung des Lebens vieler Millionen Deutscher nach einem Jahrzehnt der totalen Unmenschlichkeit waren!
    34
    Lehnard näherte sich dem Stab der 6. Armee, erblickte in der Abenddämmerung das graue Gesicht des Wachpostens, der einsam vor der grauen Mauer stand, und sein Herz schlug schneller. Als er durch den unterirdischen Gang des Stabsquartiers schritt, erfüllte ihn alles, was er sah, mit Liebe und Trauer.
    Er las an den Türen die Schilder mit den Frakturbuchstaben: »2. Abteilung«, »Adjutantur«, »General Loch«, »Major Traurig«, hörte das Rattern von

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